Der Bernsteinring: Roman
Besorgungsgänge macht und so weiter.«
»Aber Ihr seid eine vornehme Dame. Das kann ich nicht.«
»Du wirst lernen müssen. Traust du dir das nicht zu?« »Doch, schon. Aber Ihr seid fromme Damen...«
»Ja, das sind wir. Beten musst du zwar nicht ständig,
aber zur Messe gehen und brav beichten gehört mit
dazu.«
In Valeskas lebhaftem Gesicht arbeitete es.
»Ein eigenes Bett wirst du wohl bekommen und jeden Tag satt zu essen. Anständige Kleider brauchen wir für dich, und über einen kleinen Lohn können wir auch sprechen.«
»Und was mach ich mit den Hühnern?«
»Verkauf sie an die Horsel Becker’sche in der Schenke ›Zum vollen Krug‹. Sie kann gute Leghennen immer gebrauchen.«
»Woher kennt Ihr die alte Kuppelmutter denn, Frau Anna?«
Anna biss sich auf die Unterlippe. Das Kind stellte wirklich gescheite Fragen. Solche, die sie nicht gerne beantwortete.
»Das erzähle ich dir später einmal. Also – schlägst du ein?«
Anna streckte dem Mädchen die Hand entgegen. Die Kleine spuckte in die ihre und klatschte sie auf Annas.
Es gab ein paar Schwierigkeiten mit den adligen Kanonissen, als Anna und Rosa am Mittag mit dem abgerissenen Bettelkind im Stift ankam. Auch die altgedienten Mägde rümpften die Nase über das schmutzige Geschöpf, das nun in ihre Reihen aufgenommen werden sollte. Ida-Sophia, die Äbtissin, war alarmiert und zitierte Anna zu sich. Doch diesmal lernte sie eine ganz andere Seite der sonst so gefügigen Stiftsjungfer kennen. Mit beredten Worten und zähem Disputieren überzeugte sie die Oberin des Damenstifts davon, dass es ihre heilige Pflicht war, dem selbstlosen und unschuldigen Kind ein Heim zu geben. Als sie noch immer zögerte, griff Anna zu ihrem letzten Mittel. Sie suchte den inzwischen zum Ratsherren ernannten Gewürzhändler Hrabanus Valens auf und schilderte ihm ebenfalls ihre Entscheidung.
»Selbstverständlich hast du das Recht auf eine eigene Magd, Kind. Aber muss es denn eine aus der übelsten Gosse sein?«
»Sie ist ein aufgewecktes Mädchen, Herr. Sie wird schnell lernen.«
»Aber ihre Herkunft...«
»Der Alte Graben liegt nicht weit vom Katzenbauch entfernt, Herr!«, betonte Anna, und ihre Augen blitzen herausfordernd. »Ich habe es auch gelernt, die vornehme Anna di Nezza zu sein!«
»In der Tat. Also gut. Bring das Kind her, wir werden es präsentabel machen.«
»Danke Herr. Sie wartet draußen.«
In Gedanken schlug Anna drei Kreuze, dass Frau Berlindis den vergangenen Winter das Zeitliche gesegnet hatte. Sie war ihrem Magenleiden erlegen, das sie immer beständiger Gift und Galle hatte speien lassen. Seither galt Hrabanus Valens, Ratsherr und sagenhaft reicher Gewürzhändler, trotz seiner Verunstaltung als begehrter Witwer. Die nicht ganz unwahren Gerüchte besagten, er betrachte diesen Zustand nicht als besonders unangenehm.
Eine Woche später brachte eine Magd aus Hrabanus Haus das sauber gekleidete Mädchen mit blank geputztem, spitzem Gesicht und ordentlich unter einem Tuch versteckten blonden Haaren in das Stift zu Sankt Maria im Kapitol und übergab es der Obhut der neuen Schreibmeisterin Anna di Nezza.
In dem Stundenbuch aber widmete Anna dem Bettelkind, das sich unter ihrer Obhut zu einem lebenssprühenden Mädchen entwickelte und sie häufig mit seiner altklugen Lebensweisheit und schnellem Witz erheiterte, die morgendliche Gebetsstunde. Die erste Seite zeigte eine rosige Morgendämmerung, die weiße Wolkenbäuschchen über einer grünenden Wiese färbte. Vögel erwachten in blühenden Hecken und begannen jubelnd, den Tag zu begrüßen. Laudes, der Lobgesang. »Er schuf für die Sonne daselbst ein Zelt.« Den neunzehnten Psalmhatte sie für dieses frohe Bild bestimmt. Die zweite Seite allerdings war von dramatischerer Stimmung. Uniformierte Stadtsoldaten erschossen einen Bären mitten auf der Straße. Ein Kind stand Hände ringend daneben, und Gaffer umstanden zwei in schwarze Trachten gewandete Frauen, die in einem Hauseingang knieten. Darunter standen die Worte des 91. Psalms: »Du gehst über Schlangen und Nattern, trittst Löwen nieder und Drachen.«
Anna musste immer lächeln, wenn sie den Psalm sang. Die tierliebe Valeska hatte zwar keinen Drachen, doch eines Tages einen kleinen, roten Löwen angeschleppt. Das maunzende Fellbündel hatte sich heimlich in die Stiftsküche geschlichen und der empörten Köchin ein gebratenes Hühnerbein geraubt. Vor der strengen Bestrafung hatte Valeska das Kätzchen gerettet und war damit zu
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