Der Bernsteinring: Roman
frischen Kleidern gekommen war. Nass und ein wenig zitternd stand sie in der Wanne und wrang die bis zu den Hüften reichenden, schwarzen Haare aus. Ein kühler Luftzug bedeutete ihr, dass sich die Tür geöffnet hatte, und ungehalten rief sie: »Wo bleibst du denn, Valeska?«
»Oh!«, sagte eine männliche Stimme. »Verzeih, Kind, man hat mir offensichtlich den falschen Weg gewiesen!«
Mit einem Ruck drehte Anna sich um und sah Hrabanus Valens in der Tür stehen. Das helle Nachmittagslicht fiel von dort direkt auf ihren feuchten, nackten Körper. Fassungslos sah sie den Mann an, der sie einen Moment lang schweigend betrachtete und sich dann ab- wand und den Raum verließ.
Kurz darauf stürzte Valeska, schnaufend unter der Last der Kleider, in die Badestube.
»Sag mal, wer hat den Ratsherrn hier hineingeschickt?«
Valeska kicherte.
»Rosa. Sie sagte, er solle mal einen hübscheren Anblick haben als nur seine fadenscheinigen Pfeffersäcke.« »Rosa ist eine hinterlistige Schlange.«
»Warum werdet Ihr so rot, Herrin? Ihr seid doch hübsch gewachsen.«
»Im Gegensatz zu dir und Rosa fehlt mir eben nicht jedes Schamgefühl!«
»Ach Herrin, der Ratsherr ist ein alter Mann, der wird schon mehr Frauen nackig gesehen haben!«
»Er ist kein alter Mann, und ich bin keine Dirne.« »Aber Ihr mögt ihn doch?«
»Valeska!«
»Jetzt seid Ihr ganz und gar rot geworden! Sogar Euer Bauch!«
Anna wand sich das Handtuch um den Kopf, um sich die feuchten Haare abzutrocknen und ihr brennendes Gesicht zu verstecken. Denn die Bemerkungen der unbotmäßigen kleinen Magd rührten an ein schlimmes Geheimnis. Eines, das Rosa vermutlich entdeckt hatte.
Doch dann nahm sie sich zusammen, und in ihrem blauen Kleid sittsam bedeckt, die noch ein wenig feuchten Haare unter einer mit gekräuseltem Rand verzierten Haube verborgen, ging sie zum Kapitelsaal, um den Ratsherren Hrabanus Valens in gebührender Form zu begrüßen.
Er bot eine ansehnliche Erscheinung, wie er so auf sie zukam. Über seinen breiten Schultern lag eine schwarze Schaube, und unter diesem, in weite Falten gelegten, mit Samt gefütterten Mantel trug er ein dunkelrotes Wams mit bauschigen Ärmeln über einem gefältelten Hemd, gleichfarbige Kniehosen und schwarze Strümpfe. Den Kopf hatte er wie üblich mit einem weichen Barett bedeckt, in dessen Schatten die tiefen Blatternnarben auf seinem Gesicht undeutlich wurden. Doch der dunkle, inzwischen schon von zwei silbernen Strähnen an den Wangen durchzogene Bart und die kurzen schwarzen Locken zeigten ihr einen Mann, der einst wohl gut ausgesehen hätte, wäre die entstellende Krankheit nicht mit ihren Verwüstungen über ihn gekommen.
»Du bist hübsch, mein Kind!«, begrüßte er sie. »Meine Magd ist sehr geschickt mit Kleidern und Hauben.«
»Nicht alle Schönheit verdankst du deiner Magd, wie ich eben feststellen konnte.«
»Ihr sprecht, so hoffe ich, von meiner inneren Schönheit. Denn sie ist es, an der ich täglich arbeite undversuche, sie mit Gebeten und frommer Gesinnung zu vervollkommnen.«
»Auch diese Schönheit mag Euch natürlich zur Ehre gereichen.«
»Ihr wolltet sicher nicht meine körperlichen und charakterlichen Vorzüge erörtern, Herr, sondern etwas Schwererwiegendes besprechen, nehme ich an.«
»Du hast einen Sinn für das Praktische, Anna. Das schätze ich an dir.«
»Dann setzt Euch, damit ich nicht immer zu Euch aufsehen muss.«
»Gelegentlich schätze ich es, wenn man zu mir aufsieht. Dennoch, würdest du mich in das Skriptorium führen? Ich möchte sehen, wo du deinen Aufgaben nachgehst. Und ich möchte ungestört mit dir sprechen!«, sagte er, und sein Blick verfolgte die beiden Stiftsdamen, die neugierig durch die Tür spähten.
»Das ist nicht erlaubt, Herr.«
»Mir schon. Ich habe mit der Äbtissin gesprochen.« »Wie kommt es, dass sie Euch gegenüber ein solches Wohlwollen zeigt?«
»Ein Kistchen Paradieskörner, ein Beutelchen Nelken – sie liebt kostbar gewürzte Speise, mein Kind. Hast du das noch nicht bemerkt?«
»So ist sie bestechlich!«
»In kleinen Dingen, ja. Nicht in allen. Sie ist eine sehr ehrbare Frau, die ich hoch achte, Anna.«
Anna wies ihm den Weg in die Schreibstube und zeigte ihm das Pult, an dem sie arbeitete. Er ließ sich neben ihr nieder, stützte einen Fuß auf einem Schemel ab und betrachtete das Schriftstück, an dem sie an diesem Tag gearbeitet hatte.
»Ein sehr ordentlicher Platz. Eine schöne, gleichmäßige Schrift. Deine Arbeit bereitet
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