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Der Bernsteinring: Roman

Der Bernsteinring: Roman

Titel: Der Bernsteinring: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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ich vermisse das Meer, die Felsen und die Wälder. Doch es ist auch sehr einsam dort. Hier gibt es Menschen, Geschäfte, Aufregungen, schöne Frauen...«
    »Und Geld.«
    »Und Geld, sicher. Ich werde als reicher Mann dorthin zurückkehren, von wo ich jung und mittellos aufgebrochen bin. Ich werde ein Schloss bauen, Pferde züchten und ein angesehener Landjunker sein. Aber erst muss ich reich werden.«
    Anna lachte ihn an. Er strahlte eine Lebensfreude aus, die sie ansteckend fand.
    »Große Pläne habt Ihr. Wo liegt dieses Land, auf dem Ihr Euer Schloss bauen werdet?«
    »Am Ende der Welt!«
    »Natürlich.«
    »Ich verspotte Euch nicht. Man nennt es Finis Terrae, und es liegt am Ende dieses Kontinents, unserer alten Welt. Das Meer, das daran grenzt, ist jenes, das der Cristoforo Columbo vor fünf Jahren überquert hat. Am anderen Ufer dieses Ozeans liegt die Neue Welt.«
    »Und wer ist Herr dieses Landes?«
    »Nun, es hätte unser gütiger Kaiser Maximilian sein können, der die Erbin des Herzogtums geehelicht hat, Eure Namensschwester, Frau Anna, die Herzogin Anna de Bretagne. Leider raubte sie der französische König, und nun saugt er mein armes Land bis aufs Blut aus. Nein, im Augenblick möchte ich nicht zurückkehren.«
    Nach dieser Unterhaltung hatte Anna eine weitere Seite ihrem Stundenbuch hinzugefügt. Der Terz, der dritten Stunde, die sie dem Mars gewidmet hat, gab sie die Worte aus dem 104. Psalm mit: »Du schufest den Mond, den Zeiten Gesetz zu geben, die Sonne weiß, wann sieuntergeht.« Abgebildet aber hatte sie das mit so großer Eindringlichkeit geschilderte Land am Ende der Welt, und obwohl sie das Meer nie gesehen hatte, gelang ihr ein erstaunlich gutes Bild einer gischtumtosten Küste, an der die Menschen mit fliegenden Kleidern gegen den Sturm ankämpften. Die letzte Seite erhielt kurz darauf das Bildnis des kriegerischen Mars, der die Züge des ehemaligen Landknechts Marcel le Breton trug, und darunter standen die Worte des 27. Psalms: »Erfülle mit Kraft dein Herz und harre des Herrn.«
    Gelegentlich ertappte Anna sich bei dem Gedanken, was wohl geschähe, wenn sie sich den unverschämten, aber vergnüglichen Annäherungen dieses Mannes etwas geneigter zeigte.

20. Kapitel
 
 Plektrudistag
    Insgesamt zwölf Jahre lebte Anna nun schon im Stift von Maria im Kapitol. Wieder näherte sich der Plektrudistag, der 10. August des Jahres 1498. Morgen würde er festlich begangen, und morgen würde sie auch Hrabanus wieder sehen.
    Der lange helle Sommerabend machte es möglich, noch eine Weile an dem Stundenbuch zu arbeiten, und so hatte sie sich in das verwaiste Skriptorium zurückgezogen. Anna hatte vielfältige Aufgaben als Schreibmeisterin des Stifts zu erledigen und arbeitete viel mit der Priorin zusammen, die sich um die Verwaltung des Stiftsvermögens kümmerte. Auch die Äbtissin verlangte oft ihre Dienste. Viel Zeit für ihr Stundenbuch blieb ihr dabei nicht. Doch Jahr für Jahr waren mehr Blätter gestaltet worden. Und nun waren nur noch wenige Seiten unbeschrieben.
    An diesen Abend schwebte der Silbergriffel unschlüssig über dem Pergament. Die erste und zweite Seite der Sext waren inzwischen vollendet, die dritte Seite hatte einen Rahmen, doch der Spruch und das Bild fehlten. Daran hatte Anna weiterarbeiten wollen, aber nun ließ sie den Griffel sinken und schlug das Blatt um. Sie verweilte lange über der letzten Seite, auf der sie aus dem 27. Psalm zitiert hatte: »Zu dir redet mein Herz, nach dir sucht mein Gesicht, nach deinem Antlitz suche ich, o Herr.« Hier gab es ebenfalls eine fertige Miniatur, und es zeigte, wie jedes vierte Bild einer Lage, den astrologischenHerrscher, dem Anna die Stunde gewidmet hatte. An dieser Stelle war es Jupiter, und er trug das narbige Antlitz des großherzigen Stifters, ihrem Wohltäter, dem Ratsherren Hrabanus Valens.
    Die Tauben, die auf dem Sims des offenen Fensters saßen und leise gurrende Laute von sich gaben, waren die Einzigen, die sahen, welch unbeschreiblich traurigen Ausdruck das Gesicht der Stiftschreiberin Anna trug.
    »Nein!«, sagte sie schließlich und schob das Blatt vorsichtig zwischen die hölzernen Platten, zwischen denen sie es geschützt aufbewahrte. Stattdessen nahm sie ein anderes heraus und betrachtete es.
    Die Tauben auf dem Fenstersims waren aufgeflogen, als ein Rabe krächzend den Sitz begehrte. Nun saß er dort, blauschwarz glänzte sein Gefieder, und seine klugen Augen spähten in das Gemach.
    »Der Rabe hat mich unter

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