Der Beschütze
Schaf richtig zu fassen zu bekommen, und versuchte es aufs Neue, bevor seine Hände zu kalt wurden, um richtig zuzupacken.
Es schneite wieder, ein schweigender Blizzard, der das unter ihm liegende Shipcott völlig zu verhüllen drohte. Jonas hatte sich redlich bemüht, nach Edgcott hinüberzukommen, um dort seine Runden zu drehen, doch oben auf dem Hügel hatte er umdrehen müssen, als die Straße überhaupt nicht mehr zu sehen gewesen war. Zwanzig Meter weiter hatte er das Schaf entdeckt und beschlossen, die gute Tat des Tages zu tun.
Beruhigend sprach er auf das Tier ein, doch es glaubte ihm nicht eine Sekunde lang und blökte voller Angst, während es hin und wieder den Schwanz hob und in maschinengewehrartigen Salven harte, murmelgroße Dungkugeln ausstieß, als würde hier ein Scheiß-Jackpot ausgezahlt.
Jonas Holly fluchte vor sich hin, doch er konnte die Angst des Schafes verstehen. Er hatte gelernt, mit Angst zu leben.
Das hieß nicht, dass er keine Angst hatte.
Andauernd.
Die ganze Scheißzeit! Wieder hörte er Danny diese Worte sagen.
Jonas hatte das Gefühl, wenn er all seine Angst fein säuberlich getrennt und gegliedert halten könnte, dann wäre er in der Lage, damit umzugehen. Wie ein Löwenbändiger, der immer nur einen Löwen Kunststücke machen lässt – der vorsichtig den Kopf in den scharf bewehrten, stinkenden Rachen
legte, das Pieksen der Zähne an der Wange spürte und das Tier dann wieder in seinen Käfig zurückführte, ehe er den nächsten Löwen herausholte, dessen Aufgabe darin bestand, durch Reifen zu springen.
Manchmal hatte Jonas das Gefühl, dass die Riegel der Käfige locker waren, dass die Löwen hinter seinem Rücken Pläne schmiedeten – und dass die unmittelbare Gefahr eines gewaltigen Ausbruchs bestand, bei dem er in seinem Zylinder und dem roten Frack in Stücke gerissen werden würde.
Das war wahrscheinlich der Grund, warum dieses arme Schaf dachte, dass mit ihm gleich dasselbe passieren würde.
Hab keine Angst. Ich beschütze dich. Das ist mein Job.
Die Worte fielen aus dem Nichts über ihn her, und zum ersten Mal in vielen, vielen Jahren erinnerte er sich an das Gesicht des Polizisten, der das zu ihm gesagt hatte. Der Mann hatte ausgesehen wie ein Vater. Nicht wie sein Vater, aber wie die Väter, die Jonas im Fernsehen gesehen hatte – in mittleren Jahren, mit grauen Schläfen, ein wenig übergewichtig. Jonas konnte sich sogar an die blanken Knöpfe an der Jacke des Polizisten erinnern und daran, ganz überwältigt gewesen zu sein, dass diese aufregende Uniform tatsächlich in der engen Küche seiner Mutter war.
Der Polizist hatte seine Eltern gebeten, im Wohnzimmer zu bleiben. Da war Jonas in Panik geraten und hatte sich vorgestellt, wie der Polizist mit ihm zur Hintertür hinausging und ihn ins Gefängnis schaffte, während seine Eltern vertrauensvoll vor dem Fernseher warteten. Oder vielleicht würde er ihm wehtun, um herauszufinden, was er wissen wollte. Jonas wollte nicht, dass man ihm wieder wehtat. Doch er wollte es auch nicht erzählen. Wenn er das mit Danny und dem Stall erzählte, dann würde alles herauskommen und jeder würde davon wissen, sogar seine Eltern. Und niemand durfte jemals erfahren, dass Jonas dieses jämmerliche Balg überhaupt kannte – geschweige denn, dass er früher mal dieses jämmerliche Balg gewesen war. Selbst er, Jonas, hatte gelernt,
diesen schwächlichen kleinen Jungen seinem Schicksal zu überlassen und woanders hinzugehen, während Unsagbares geschah.
Der große Polizist hatte den Kopf vorgebeugt und leise Fragen nach dem Brand gestellt. Jonas hatte ihm die Wahrheit gesagt – dass er nichts wusste. Doch er sagte nicht die Wahrheit darüber, was für einen Verdacht er hegte.
Irgendwie hatte der Polizist gewusst, dass er etwas verbarg. Wie durch Zauberei hatte er es gewusst. Wie? Er hatte nachgefragt und gebohrt und sanft gedrängt, bis Jonas schließlich in Tränen ausgebrochen war.
»Hast du Angst, Jonas?«, hatte er mit großer Güte gefragt.
Die Fäuste in den Augen, hatte Jonas genickt. Der Polizist hatte eine dieser heißen, nassen Fäuste genommen und sie mit seiner eigenen umschlossen.
»Hab keine Angst«, hatte er gesagt. »Ich beschütze dich. Das ist mein Job.«
Es war verlockend. So verlockend. Einfach mit allem herauszuplatzen und es hinter sich zu haben und alles den Erwachsenen zu überlassen. Doch Jonas erzählte es niemals, weil er wusste, dass es jetzt nur eine Möglichkeit gab, sich
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