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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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zu schützen, und zwar indem er jenen anderen Jungen beschützte  – sogar vor dem netten Polizisten.
    Hier und jetzt war Jonas’ Gesicht ebenso heiß und gerötet, wie seine Hände kalt waren. Er wünschte sich, er könne davonlaufen und nie wieder zurückkommen. Er hatte dem Dorf gegenüber versagt, und er hatte  – jetzt, da er geweint hatte  – Lucy gegenüber versagt. Sie hatte seine Schwäche gesehen und konnte sich nicht länger Kraft bei ihm holen.
    Er machte schlapp.
    Die Wut dieses Gedankens gab ihm Kraft, und plötzlich schaffte er es, das Ohr des Schafes und eine Handvoll schmutzige, nasse Wolle genau an der richtigen Stelle zu packen, so dass er das Tier in die Höhe und aus dem V einer Astgabel hebeln konnte, wo es sich verkeilt hatte. Als er das
tat, schlugen die Beine des Schafes wild aus und erwischten ihn am Oberschenkel. Er biss sich auf die Lippe und ächzte, als er das Tier aus dem Baum wuchtete und es losließ.
    Nach einem anfänglichen Sprint in heller Panik drehte sich das Schaf um und betrachtete ihn mit arroganten gelben Augen.
    Jonas keuchte und rieb sich das Bein. Seine Hose war zerrissen, und er konnte fühlen, wie die Kälte seinen Schenkel berührte. Er würde nach Hause fahren und sich umziehen müssen. Wieder einmal.
    Trotzdem war er nicht mehr wütend; er war dankbar. Der Tritt hatte ihn zurückgeholt. Fort von jenem beängstigenden Ort, wo Erinnerungen emporstiegen wie tote Fische, die die stille Oberfläche seines Verstandes durchbrachen.
    Er war hier.
    Er war in Sicherheit.
    Er war wieder Jonas Holly, der Beschützer.
    »Hab keine Angst«, sagte er zu dem Schaf.
     
    Ein verlassener Toyota versperrte das untere Ende der Straße, die zum Haus führte. Anscheinend hatte der Fahrer versucht, den Hügel hinaufzukommen, war jedoch zur Seite weggerutscht, und jetzt klemmte das Auto zwischen den dornigen schwarzen Winterhecken mit ihren dicken Mützen aus weichgezeichnetem Schnee, der im schwindenden Tageslicht grau wurde.
    »Scheiße«, sagte Jonas leise. Einen Augenblick lang saß er da und hasste den Fahrer, der zweifellos ins Dorf zurückmarschiert war und wahrscheinlich gerade im Red Lion eine Rindfleisch-Nieren-Pastete aß, während er sich darauf verließ, dass irgendjemand in seiner Abwesenheit schon irgendetwas hinsichtlich seines Missgeschicks unternehmen würde.
    Niemand aus dem Dorf hätte sein Auto hier stehen lassen, dachte Jonas. Die Leute aus dem Dorf wussten, dass die Bauern selbst bei solchem Wetter mit ihren Traktoren zum
Vieh aufs Moor mussten. Die Leute von hier hatten mehr Verstand und waren höflicher.
    Während er stumm vor sich hinkochte, kletterte Jonas in den Schnee hinaus  – und wurde scharf daran erinnert, dass ihm nach der Episode mit dem Schaf gerade erst wieder warm geworden war.
    Er musste über die Kofferraumklappe des Wagens rutschen, um die Winde festzumachen, und holte sich als Dank für seine Mühe einen nassen Hintern.
    Als er auf der anderen Seite des Kofferraums zu Boden glitt, löste sich das Heck des Toyotas, und der Wagen schlidderte zur Seite. Dann begann er, langsam den Hügel hinunterzurutschen.
    Jonas machte ein paar zögernde Schritte, dann jedoch blieb er stehen und konnte nur zusehen, wie das Auto im sanften Bogen in seinen Land Rover hineinschrammte, bevor es weiterrutschte und am Fuß des Hügels an einer Schneewehe zum Stehen kam.
    »So ein Arschloch«, sagte Jonas leise, aber mit viel Gefühl. Ihm war eiskalt, es hatte wieder angefangen zu schneien, und jetzt würde er Formulare ausfüllen und erklären müssen, wie der Land Rover beschädigt worden war, wo er doch nur nach Hause, ein dampfend heißes Bad nehmen und mit Lu zu Abend essen wollte.
    Als er sich durch den aufgewühlten Schnee dort, wo der Toyota gewesen war, auf den Weg den Hügel hinunter machte, bemerkte Jonas Fußspuren, die, wie er annahm, die des Fahrers waren. Sie führten nicht den Hügel hinab zum Red Lion, sondern hügelaufwärts auf das Rose Cottage zu. Er blieb stehen und beleuchtete die Spuren mit der Taschenlampe.
    Der Neuschnee ließ sie allmählich etwas verschwimmen, doch Jonas konnte immer noch das Sohlenprofil erkennen.
    Ein Fischgrätmuster.
    Jonas machte die Taschenlampe aus und rannte den Hügel hinauf.

     
    Die Fußspuren führten geradewegs zur Haustür. Trotz des Streugranulats schlidderte er den Pfad entlang und rutschte dann vor der Tür abermals aus. Mehrere laute Holzscheite polterten von dem Stapel gleich

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