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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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gehabt hätte.
    »Whiskey?«, erkundigte sich Reynolds, als hätte er so einige Erfahrung mit Marvel als Säufer.
    »Nein«, antwortete Lucy. »Etwas Süßeres. Aber definitiv Alkohol.«
    »Und um wie viel Uhr war das?«
    »Ungefähr um neun. Morgens.«
    DS Reynolds schwieg einen Moment lang, und Lucy nahm an, dass er emsig schrieb. Sie bemühte sich, ihren Optimismus zu zügeln: Noch immer argwöhnte sie, dass ihre Beschwerde in jenem schwarzen Loch der freimaurerischen Geheimniskrämerei verschwinden würde, die ihrer Meinung nach unter ranghohen Beamten herrschte. Aber wenigstens hatte sie den Mund aufgemacht. Selbst wenn Reynolds ihr jetzt verkündete, dass er ihr ein Beschwerdeformular schicken würde; diese Befriedigung hatte sie trotzdem.
    Doch DS Reynolds sagte nicht, dass er ihr ein Formular schicken würde. Stattdessen erkundigte er sich mit ernster Stimme: »Mrs. Holly, wären Sie bereit, eine eidesstattliche Erklärung zu diesen Vorfällen abzugeben?«
    Lucy hätte vor Verblüffung fast laut aufgelacht.
    »Bereit?«, wiederholte sie. »Ich würde mich überschlagen vor Bereitschaft.«

     
    Als Reynolds nach dem Gespräch mit Lucy Holly den Hörer auflegte, zitterte er tatsächlich am ganzen Körper. Er hatte seine aktuellen Eintragungen in seinem Notizbuch, er hatte seine eigenen detaillierten Berichte, die zeigten, dass John Marvel ein unprofessionelles, grobschlächtiges Arschloch war, das man nicht einmal eine Schimpansen-Teegesellschaft leiten lassen sollte, geschweige denn eine Mordermittlung. Bis zu diesem Moment jedoch hatte ihm der unabhängige Totschlagbeweis gefehlt, der in einer disziplinarischen Untersuchung gegen DCI Marvel den Ausschlag geben würde.
    Er hatte immer gewusst, dass es so kommen würde. Immer. Leute, die sich so benahmen wie Marvel, operierten mit geborgter Zeit. Zuerst einmal wusste er, dass Marvel die Londoner Polizei nicht im Guten verlassen hatte. Was genau da nicht gut gewesen war, hatte er nicht herausfinden können, doch die Polizei-Buschtrommeln hatten etwas davon verlauten lassen, dass Marvel die Fakten verbogen hätte, damit sie auf einen Verdächtigen passten  – oder er hatte jenen Verdächtigen verbogen, damit die Fakten auf ihn passten. Das traute Reynolds ihm zu. Er hätte Marvel fast alles Schlechte zugetraut. Die archaische Herangehensweise dieses Mannes an seine Arbeit war ihm verhasst  – wie er sich auf »Bauchgefühle« verließ, seine laxe Haltung zu Vorschriften, seine persönlichen Macken und unlogischen Fehden, seine heimliche Sauferei. Nichts davon hatte bei moderner Polizeiarbeit irgendetwas zu suchen.
    Seit er angefangen hatte, mit Marvel zusammenzuarbeiten, war Reynolds darüber schockiert gewesen, wie zwanghaft sich der DCI auf bestimmte »Verdächtige« fixierte. Letztes Jahr hatte Marvel in Weston einen neunzehnjährigen Obdachlosen zwei Tage lang festgehalten, weil er sich in der Nähe des Tatorts aufgehalten hatte und »aussah, als wäre er schuldig«. Davor war dem verheirateten Freund einer erwürgten minderjährigen Asiatin unter massivem Druck ein
Geständnis abgepresst worden, das sich binnen Sekunden als falsch erwies, als der Vater des Mädchens ein paar Tage später hochmütig den »Ehrenmord« gestand.
    Gewiss, Marvel erzielte Resultate  – selbst Reynolds musste das zugeben  –, und dank dieser Resultate war er widerstrebend unangetastet geblieben, seit er London verlassen hatte. Bei der Polizei von Avon & Somerset herrschte eine Art Minderwertigkeitskomplex, der es dem Großstadtcop gestattet hatte, konventionelle Vorgehensweisen niederzuwalzen und sich Fälle unter den Nagel zu reißen, die eigentlich anderen zugestanden hätten. Vorgesetzte waren auch nur Menschen und wollten  – das war Reynolds klar  – nur, dass alles seinen geregelten Gang ging. Marvel an die Kandare zu nehmen und ihn in die Schranken zu weisen hätte mehr Anstrengung gekostet, als irgendeiner der gegenwärtigen Amtsinhaber aufzuwenden bereit war  – nicht einmal von einem Schreibtisch aus.
    An seinem Platz an Marvels Seite war Reynolds zu der Überzeugung gelangt, dass der Mann es verdiente, rausgeschmissen zu werden. Doch wegen Marvels hartnäckiger guter Resultate war ihm stets klar gewesen, dass er auch gute, eidesstattlich bezeugte Beweise für ernsthafte Verfehlungen brauchen würde, hoffentlich von einer Zivilperson, um Marvel zur Strecke zu bringen.
    Die Sorte Beweis, die Lucy Holly ihm soeben in den Schoß gelegt hatte wie

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