Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
Vom Netzwerk:
auf der Grünanlage spazieren zu führen  – zum ungefähr hundertsten Mal  –, und der Mann marschierte davon und brummelte etwas von » richtige Verbrecher jagen«. Jonas ging nicht darauf ein, doch es trug nicht dazu bei, sein schlechtes Gewissen oder das wachsende Gefühl des hilflosen Verdrusses zu mindern. Verdruss darüber, dass er in Sachen Öffentlichkeitsarbeit an vorderster Front stand, jedoch keinerlei Insiderwissen über die Ermittlungen besaß.
    Nicht dass er den Leuten mehr hätte erzählen dürfen oder
wollen, als es ihm jetzt möglich war, doch »wir« sagen zu können anstatt »die Kollegen«, wenn er von der Suche nach dem Mörder sprach, hätte den Menschen bestätigt, dass ihr Bobby Interesse an dem Fall zeigte, und er wäre sich weniger wie ein Hochstapler vorgekommen. Jonas war kein Wichtigtuer  – als bei Lucy Multiple Sklerose diagnostiziert worden war, hatte er seine Zukunft hinter sich zurückgelassen und nie zurückgeschaut  –, doch jetzt hatte er zum ersten Mal in seiner beruflichen Laufbahn das Gefühl, dass er die Bestätigung brauchte, ein Insider zu sein. Er schämte sich, das einzugestehen, sogar nur sich selbst.
    Als er endlich wieder in Shipcott war, ging er an dem flatternden blauweißen Absperrband vorbei, das Margaret Priddys Cottage am Ende der Häuserreihe abriegelte. Die Cops aus Taunton hatten es gespannt, um die Leute fernzuhalten, doch natürlich hatte es lediglich die Aufmerksamkeit auf den Tatort gelenkt. Seit es am Sonntagmorgen angebracht worden war, hatte er gesehen, wie die Jungen aus dem Ort sich gegenseitig aufstachelten, unter dem Band hindurchzutauchen und an die Tür zu klopfen, und jetzt sah er, dass Will Bishop Milch auf die Schwelle gestellt hatte. In einer der Flaschen war sie gefroren und hatte den Foliendeckel hochgedrückt; wie eine kecke Mütze thronte er auf einer verformten Säule aus kristallisiertem Kalzium.
    Jonas wusste, dass Marvel wegen der Milch bestimmt stinksauer sein würde. Er würde etwas unternehmen müssen.
    Während er durch das Dorf ging, in dem er aufgewachsen war, wurde Jonas daran erinnert, dass sich in den Jahren, die er nicht in Shipcott gewesen war, nicht viel verändert hatte, jedoch sehr viel geschehen war.
    Aus Mr. Jacobys Laden war ein Spar-Minimarkt geworden. Mr. Randalls Sohn Neil hatte sein rechtes Bein neben einem Army-Checkpoint im Irak zurückgelassen, und die Gebeine des verlorenen Sohns der armen Mrs. Peters waren endlich oben auf dem Hochmoor gefunden worden. Für
jeden, der nicht von hier stammte, wären die Auswirkungen nicht wahrnehmbar gewesen. Als er nach dem Tod seiner Eltern zurückgekommen war, war Jonas aufgefallen, dass sämtliche Waren in Mr. Jacobys Laden jetzt mit einem Preisschild versehen waren, so dass Mr. Jacobys fotografisches Gedächtnis nunmehr überflüssig war  – wodurch Mr. Jacoby irgendwie auch überflüssig war. Dass Neil Randall jeden Tag besoffener und aufgedunsener und immer mehr zu einer Gefahr für den Straßenverkehr wurde, wenn er mit seiner schlecht angepassten Prothese auf den schmalen Gehsteigen nach Hause torkelte. Und dass Mrs. Peters nicht mehr an ihrem Fenster stand und darauf wartete, dass Billy zurückkam.
    Ein Fremder hätte das nicht verstanden.
    Jonas aber verstand es.
    Ohne sich je zu fragen, wieso er derart gesegnet  – oder geschlagen  – war, begriff Jonas, dass fast alles Wichtige in der Tiefe passiert, fern von den Blicken der Öffentlichkeit. Dass Schilder und Medaillen und Schlagzeilen nur die Spitze des dörflichen Eisberges sind, und dass das wahre Leben lange vorher und tief unter der Oberfläche in den blauschwarzen Tiefen des Gemeindeozeans geformt wird.
    Linda Cobb beklagte sich über die Jungen, die unter dem Absperrband hindurchflitzten und gegen Margarets Tür und ihre Fenster hämmerten. Jonas sagte, er würde mit ihnen reden.
    Ein kleines Stück weiter öffnete Mrs. Peters die Haustür. »Was passiert denn jetzt mit Margaret?«
    Er sagte ihr dasselbe, was er den Leuten schon den ganzen Tag erzählt hatte.
    »Und was tust du?« , fragte sie unverblümt.
    »Nichts«, antwortete er, und als Mrs. Peters den grauhaarigen Kopf schief legte und unverwandt zu ihm hinaufstarrte, fügte er hastig hinzu: »Ich meine, die Kollegen sind doch Experten für solche Verbrechen.«

    Sie beäugte ihn eine ungläubige Sekunde lang, dann schnaubte sie abfällig.
    Urplötzlich musste Jonas voller Unbehagen an den Tag denken, an dem ihr Sohn verschwunden

Weitere Kostenlose Bücher