Der bessere Mensch
Parterre, der wie immer um diese Zeit seinen Hund ausführte, einen schönen Abend.
9.
Die schlechte Laune vom Vortag war verschwunden. Schon beim Aufwachen trieb es Schäfer zur Arbeit. Warum er so unter Strom stand, konnte er sich leicht erklären: War der Mord an Born eine Einzeltat, stünden nach den bisherigen Ergebnissen zähe und langwierige Ermittlungen bevor – aber es würde immerhin bei einem Opfer bleiben. Jetzt hatten sie einen fehlgeschlagenen Mordversuch, bei dem Spuren hinterlassen worden waren. Wenn es sich um denselben Täter handelte, konnten sie den Kreis wahrscheinlich enger ziehen. Dem stand allerdings die Möglichkeit einer Serie gegenüber – dann würde es ein Wettlauf gegen die Zeit werden.
In der Morgenbesprechung gingen sie zuerst den Einbruch bei Schröck durch. Sie mussten noch die detaillierten Ergebnisse der Spurensicherung abwarten, doch dann sollten sie sich auf das Dreieck konzentrieren, das aus dem neuen Anhaltspunkt entstanden war: Born, Schröck, Täter – wenn es zwischen den ersten beiden irgendeine Verbindung gab, mussten sie diese so schnell wie möglich finden.
Bergmann hatte inzwischen alle noch auffindbaren Drohbriefe gesichtet, die Born erhalten hatte. Über hundert meist anonyme Schreiber, die Born beschimpften, verfluchten, mit dem Verprügeln oder gar mit dem Tod bedrohten. Dass Born nur in achtzehn Fällen Anzeige erstattet hatte, war von der Polizei damals bestimmt begrüßt worden. Jetzt erwies es sich als Problem: Bei mindestens zehn Jahre alten Briefen den Absender auszuforschen – wenn nicht irgendwo ein Fingerabdruck oder eine Hautzelle überlebt hatte, so gut wie unmöglich. Dennoch mussten sie es versuchen. Bergmann sollte die Dokumente den Forensikern geben und zudem überprüfen, welche notorischen Drohbriefschreiber aus der damaligen Zeit polizeilich erfasst waren – vielleicht stimmte irgendwo ja das Schriftbild, der Typus der Schreibmaschine oder des Druckers mit anderen Briefen überein. Die vier Personen, die damals ausgeforscht werden konnten, würde Schäfer gemeinsam mit Bergmann aufsuchen.
Nach der Morgenbesprechung suchte Schäfer Oberst Kamp auf, um ihn über den Ermittlungsstand zu informieren.
„Ich kenne diesen Schröck“, sagte Kamp, „besser gesagt seinen Vater … ein unangenehmer Zeitgenosse …“
„Inwiefern?“
„Na ja … der Typus Unternehmer, der es in den Achtzigerjahren mit Skrupellosigkeit und schon kranker Geldsucht zu einem Vermögen gebracht hat … hat oft genug die Staatsanwaltschaft am Hals gehabt wegen Betrugs, Steuerhinterziehung und was weiß ich noch allem … ein Psychopath im Nadelstreif … sehr unangenehm.“
„Wir werden ihn auf jeden Fall unter die Lupe nehmen …“
„Ja … aber verbrennen Sie sich nicht die Finger … an dem sind schon genug Beamte verzweifelt …“
Zurück im Büro, machte Schäfer sich daran, aus den Dateien im Intranet und seinen eigenen Notizen eine Zusammenfassung zu erstellen, die ihn die Übersicht nicht verlieren lassen würde.
Beim Mittagessen sprach er mit Bergmann darüber, wie sie die amtsbekannten Drohbriefschreiber angehen sollten. Anrufen und zu einer Befragung einladen? Und damit möglicherweise vorwarnen? Oder gleich bei ihnen zu Hause auftauchen? Und so riskieren, dass sie abgewiesen würden, weil weder ein ausreichender Verdacht geschweige denn eine Anzeige vorlag, die es ihnen erlaubte, die Personen zu vernehmen. Tür vor die Nase geknallt, kommen Sie mit einem Durchsuchungsbefehl, einer Vorladung, einem Haftbefehl … ein Vergnügen, das sich immer mehr Menschen machten, auch wenn sie nur zu einem Sachverhalt befragt werden sollten. Schäfer schrieb es den neuen Fernsehserien zu, die sich mit juristischem und forensischem Fachvokabular einen realistischen Anstrich gaben. Manchmal sah er sich diese Serien selbst gerne an – aber seit wann wollten die Österreicher denn wie die Amerikaner sein?
Schäfer entschied sich trotz ihrer Bedenken für die direkte Herangehensweise, anläuten und eintreten – auch weil ihm die Vorstellung zuwider war, den ganzen Nachmittag im Büro zu verbringen.
Die betreffenden Personen waren über ganz Wien verstreut; allesamt Männer und alle mindestens fünfzig, was es zumindest wahrscheinlicher machte, sie zu Hause anzutreffen. Dieses Glück hatten sie allerdings erst beim dritten Versuch: ein pensionierter Universitätsprofessor, Fachgebiet Altphilologie und antike Mythologie. Er empfing sie überrascht, aber höflich
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