Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
erhebliche Vorbehalte gegen sie gehabt, nicht auf fachlicher,
sondern auf gruppendynamischer Ebene. Dieses wandelnde Blondinen-Klischee, groß,
schlank, mit seidigen Haaren bis zum Hintern und Augen, blaßblau wie die Quelle
eines Bergsees, würde seine Truppe womöglich allein durch sein Aussehen in
Hormonstreß und damit aus dem Gleichgewicht bringen. Damit hatte Christian
recht behalten, doch Karen hatte die Jungs und ihre Wirkung auf sie
überraschend gut im Griff. Sie ließ die Kollegen eiskalt abblitzen. Mit der
Zeit überzeugte sie alle durch einen ungemein hohen Sachverstand und eine von
Christian inzwischen sehr geschätzte Kombinationsgabe. In ihren Überlegungen
und Theorien wagte sie auch mal Wege zu begehen, die nicht von konkreten
Indizien vorgegeben waren. Karen besaß eine intuitive Phantasie, die sie weit
über das hinausführte, was die meisten Pathologen an ihrem Autopsietisch im
Labor zu leisten in der Lage waren.
»Die Probe ist schon unterwegs zur DNS-Analyse«, nahm Christian
den Gesprächsfaden wieder auf.
»Er fängt an, Fehler zu machen«, sinnierte Eberhard.
Volker widersprach: »Nicht unbedingt. Wir werden sehen, was er uns
sagt und was er verschweigt. Und inwieweit er kontrolliert, was er preisgibt.«
Er wandte sich an Karen: »Gibt es sonst was Neues? Andere Spuren? Änderungen im
Modus operandi?«
Karen verneinte: »Im Grunde alles wie immer. Nur daß der Mißbrauch
diesmal relativ kurz zurückliegt, wenige Stunden vermutlich, und nicht Tage wie
bei den anderen.«
»Gab es wieder einen Brief?« fragte Volker.
Christian nickte und zog einen handbeschriebenen Zettel hervor. »Er
war wie sonst in dem Tuch eingefaltet. Ich habe den Text abgeschrieben. Das
Original ist in der Materialkiste.«
Volker nahm den Zettel und las leise: »O Gott, zerbrich ihnen die
Zähne im Mund! Zerschlage, Herr, das Gebiß der Löwen! Sie sollen vergehen wie
verrinnendes Wasser, wie Gras, das verwelkt auf dem Weg, wie die Schnecke, die
sich auflöst in Schleim, wie eine Fehlgeburt sollen sie die Sonne nicht
schauen!«
»Scheiße«, fluchte Eberhard, »ich werde daraus nicht schlau. Wer
sind ›sie‹? Die Kinder?«
Christian zuckte die Schultern: »Vermutlich wieder ein biblischer
Rachepsalm. Ich habe Daniel schon gemailt, er sucht danach. – Ach, ja, noch
was: der Fundort. Daniel hat vorhin eine Mail an Philipp geschickt.«
Eberhard nahm den Ausdruck von Daniels Mail und betrachtete das Foto
von dem gravierten Felsen, vor dem am Morgen der Junge gelegen hatte. Darunter
stand: »Ein zweifellos antikes Bildwerk und wohl ein bedeutender Rest
gallorömischer Kultur befindet sich eine Viertelstunde südlich von Sengscheid
am Ende eines stillen Wäldchens. ›Hänsel und Gretel‹ oder ›die Engelchen‹ wird es
beim Volke genannt. Infolge Verwitterung ist die Erhaltung leider sehr
mangelhaft und die Bestimmung der Attribute nicht mehr leicht. Vermutlich haben
wir es mit Segensgottheiten aus dem keltoromanischen Götterkreis zu tun. Das
Felsenrelief mag etwa aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert stammen und
diente wohl dem Kultus.«
Eberhard zeigte Volker die Mail von Daniel. Während Volker las,
begann Eberhard leise zu singen: »Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald. Es
war so finster und auch so bitter kalt …«
Als Anna den Vorlesungssaal verließ, hatten sich die
Zuhörer schon zerstreut. Nur der Mann, der zu spät gekommen war und auf der
Treppe Platz genommen hatte, wartete auf sie und sprach sie mit einem
gewinnenden Lächeln an: »Guten Abend, Frau Maybach, ich bin Pete Altmann.«
Anna reichte ihm die Hand und sah ihn abwartend an.
»Ihr Vortrag war sehr erhellend«, begann er sich einzuschmeicheln.
»Um so bedauerlicher, daß Sie den Anfang verpaßt haben«, lächelte
Anna. Sie wandte sich zum Gehen, doch er blieb an ihrer Seite.
»Das finde ich auch. Ich hatte gehofft, Sie würden meine Lücken
schließen. Am besten jetzt gleich. Bei einem Glas Wein?«
Anna blieb stehen und sah ihn überrascht an. Der Typ sah wirklich
gut aus. Dunkelblond, blaue Augen, hervorragende Zähne, durchtrainiert, soweit
man das unter seinem teuren Anzug erkennen konnte, braungebrannt. Anna
versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er ihr gefiel: »Warum sollte
ich mit Ihnen etwas trinken gehen?«
Pete Altmann zeigte ein Siegerlächeln: »Vielleicht, weil ich neu in
der Stadt bin und noch niemanden kenne?«
»Das reicht nicht«, erwiderte Anna unbeeindruckt.
»Weil ich unverschämt genug
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