Der beste Tag meines Lebens
sehen zu können.
Er trat gerade rechtzeitig vor, um einen Blitz wahrzunehmen, der von einem lauten, explosiven Knall begleitet wurde. In seinen Ohren dröhnte es.
Die Cafeteria war von Geschrei erfüllt. Alle Schüler rannten zu den Ausgängen – alle außer Colin, dessen Neugier größer war als seine Furcht vor dem Lärm. Er näherte sich dem Schauplatz der Auseinandersetzung, wo ihm der Geruch nach Schießpulver und zertretenen Senfpäckchen in die Nase stach. Er schaute zu Boden und registrierte dort die zertrampelten Reste von halb verzehrten Mittagessen, zurückgelassene Stifte und Rucksäcke, einen Science-Fiction-Roman, einen Comic, ein Lipgloss mit Melonengeschmack und andere Make-up-Utensilien und mittendrin …
Eine Handfeuerwaffe. Neun Millimeter.
Der Lauf aus schwarzem Metall rauchte noch schwach. Der gummierte Griff war mit weißer Schokoladenglasur verschmiert. Colins Eltern besaßen keine Waffen, also hatte er abgesehen vom Holster eines Polizisten noch nie eine Pistole aus so geringer Entfernung gesehen. Colin kauerte sich daneben und achtete darauf, nichts zu berühren.
»Das ist sehr interessant«, sagte er.
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Teil Zwei
Der Idiot und der Freak
6 . Kapitel
Befragung der Augenzeugen
Die moderne Forensik ist erst knappe hundert Jahre alt. Detektive gibt es allerdings schon bedeutend länger. Die meisten Gelehrten halten König Ödipus des griechischen Dichters Sophokles für die erste Detektivgeschichte unserer Zeit.
Um eine Seuche zu beenden, muss Ödipus den Mord an seinem Vorgänger im Amt des Königs von Theben aufklären. Diese Aufgabe wäre ihm leichter gefallen, wenn er sich der Methoden der modernen Forensik hätte bedienen können. Doch im antiken Griechenland gab es noch keine DNA -Analyse und keine Datenbanken mit Fingerabdrücken. Das alles wäre nützlich gewesen, hätte andererseits aber auch das Drama arg verkürzt.
Zum Glück konnte Ödipus sich einer Methode bedienen, die nichts mit Technik zu tun hat: die Befragung von Augenzeugen. Er spricht mit einem thebanischen Hirten, der mit angesehen hat, wie der alte König bei einer Auseinandersetzung am Straßenrand erschlagen wurde. Durch geduldiges Nachfragen findet er heraus, dass ebendieser Hirte Jahre zuvor den Sohn des Königs als Neugeborenen einem Fremden in Korinth anvertraut hat. Dieses Kind war niemand anderer als Ödipus selbst.
Diese Geschichte ist ein gutes Beispiel für einen Schlüsselaspekt des Augenzeugenberichts. Denn manchmal erhält man dabei Antworten auf Fragen, die man nie zu stellen gedachte. Und manchmal bewirken die Antworten, dass man sich wünscht, nie die Frage gestellt zu haben.
***
Colin betrat das Büro der Schulkrankenschwester. Dort hingen Poster gegen Drogen und eines vom Landwirtschaftsministerium der USA , das die Ernährungspyramide zeigte (Colin registrierte, dass diese nach wie vor lächerlich auf Getreide- und Milchprodukte hingetrimmt war), dazu noch farbenfrohe Darstellungen der weiblichen und männlichen Fortpflanzungsorgane. Statt der Schulschwester standen allerdings zwei Polizisten vor einem unaufgeräumten Schreibtisch. Einer war jung, mit rasiertem Kopf und sorgsam gestutztem Schnurrbart. Er trug die dunkelblaue Uniform des Los Angeles Police Department. Der andere war ein Latino um die dreißig, in Lederjacke und Baggy Jeans. Colin wusste, dass auch er Polizist war, weil er um den Hals ein Band trug, an dem die Marke eines Detective vom LAPD hing.
»Bist du Colin Fischer?«, fragte der Detective.
»Ja«, antwortete Colin. »Gehöre ich zu den Verdächtigen?«
Der Detective machte eine rasche Kopfbewegung, die Marie einen »Doppelhinseher« nannte. Das bedeutete üblicherweise ERSTAUNEN . »Was bringt dich dazu, dich selbst für einen Verdächtigen zu halten?«
»Das ist doch nur selbstverständlich, die Person zu verdächtigen, die man der Waffe am nächsten antrifft«, sagte Colin. »Außerdem blieb ich in der Cafeteria, als die anderen Schüler alle rausrannten – das ist eine Anomalie und daher sehr interessant. Zieht man dazu noch die entwicklungspsychologischen Besonderheiten in Betracht, über die der Sicherheitsbeamte der Schule zweifellos informiert ist« – er deutete auf den uniformierten Beamten, der tatsächlich eine Aktenmappe mit der Aufschrift FISCHER , C. in der Hand hielt –, »dann zähle ich zu den Hauptverdächtigen.«
Der Detective sah Colin ein paar Sekunden lang schweigend an und kratzte sich dabei am Hals. Colin bemerkte eine
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