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Der Bestseller

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Titel: Der Bestseller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Carter
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Sonntagmorgen suchte ich meinen Bruder in seinem Zimmer auf. Es war einer seiner schlechten Tage: Er war deprimiert, verständlicherweise ziemlich verbittert und hatte offenbar Schmerzen. In seinem Gesicht waren tiefe Falten, und er sah schrecklich blaß aus. Er lag, zugedeckt mit einer leichten Baumwolldecke, im Bett und hatte das Gesicht zur Wand gedreht. Unter der Decke und dem Morgenmantel, den er trug, waren seine dünnen, nutzlosen Beine. »Tim«, sagte ich.
    Er sah mich an, ohne zu lächeln. »Eine Scheißwelt, was?«
    Wieder einmal begriff ich, wie schwach er und seine Verwurzelung im Leben waren und wie tragisch es war, daß er an den Rollstuhl gefesselt war. »Manchmal«, sagte ich.
    » Oft «, berichtigte er mich.
    Ich nahm das Buch, das auf dem Tisch lag: Die Kunst der Kriminalerzählung, eine klassische Anthologie, herausgegeben von Howard Haycraft. Ich blätterte darin und überschlug Essays von G. K. Chesterton, E. M. Wrong und Willard Huntington Wright und Dorothy Sayers. Tims Lesezeichen steckte in einem Beitrag von Edmund Wilson mit dem Titel »Wen interessiert schon, wer Roger Ackroyd umgebracht hat?«.
    »Wilson hatte für dieses Genre offenbar nicht viel übrig«, sagte ich.
    Tim schnaubte. »Er schreibt: >Eine Kriminalerzählung ist wie die Suche nach einem rostigen Nagel in einem Heuhaufen.<«
    »Ein hartes Urteil.«
    »Jedenfalls wissen wir«, sagte Tim, »daß er Der Mord an Roger Ackroyd nie gelesen hat, sonst hätte er einen anderen Titel gewählt.«
    Eine Zeitlang saßen wir schweigend da. Ich beschloß, Tim ein Thema wählen zu lassen. »Du hast mir noch gar nicht von der ABA erzählt«, sagte er schließlich.
    »Da gibt’s auch nicht viel zu erzählen.«
    »Sag bloß, du hast nichts Besonderes angestellt.«
    Etwas Besonderes angestellt? Was denn eigentlich? Wenn ich auf einer ABA bin, steht mir der Sinn nicht nach Sehenswürdigkeiten — dazu ist einfach zuwenig Zeit. Diesmal, in Washington, hatte ich jedoch eine Ausnahme gemacht. Es gab zwei Orte, die ich aufsuchen mußte, als Pilger sozusagen.
    Der erste war das Lincoln Memorial. Im Inneren dieses großen dorischen Tempels steht jenes Kunstwerk, das für viele zu den besten der modernen Welt zählt: Daniel Chester Frenchs Statue des sitzenden, nachdenklichen Lincoln. Man kann nur schweigend und staunend davorstehen — wenn nicht gerade, wie an diesem Tag, zu viele Busladungen zappelnder Kinder in der Nähe sind. Es ist viel besser, nachts hinzugehen, wenn das Standbild, von Scheinwerfern beleuchtet, erstrahlt. »Er war ein Berg an Seelengröße«, schrieb Walt Whitman. »Er war ein Ozean, der mit tiefer Unterstimme von mystischer Einsamkeit sprach, er war ein Stern von unerschütterlicher Reinheit im Dienen wie im Handeln, und er ist nicht vergangen.«
    Das klingt ein bißchen nach Heiligenverehrung, aber trotzdem... Ich habe Abe Lincoln immer bewundert, nicht zuletzt, weil von ihm eine der besten und bündigsten Buchkritiken stammt, die je geschrieben worden sind. Sie bestand aus einem einzigen Satz: »Wem diese Art von Büchern gefällt, dem wird dieses Buch gefallen.«
    »Ich bin zum Lincoln Memorial gegangen«, sagte ich zu Tim.
    »Und?«
    »Und danach bin ich hinüber zum Vietnam Veterans Memorial gegangen.« Mindestens drei der mehr als achtundfünfzigtausend Namen, die auf den beiden langen Mauern aus schwarzem Granit eingemeißelt sind, gehören Freunden von mir — Klassenkameraden in Princeton.
    »Was für eine traurige und sinnlose Verschwendung von Leben war dieser Krieg!« sagte ich.
    »Traurig, ja. Und sinnlos auch. Sogar noch sinnloser als...« Er atmete mit einem Seufzer aus, der fast ein Stöhnen war. Seine Gedanken spiegelten sich auf seinem Gesicht wider. >Sogar noch sinnloser und trauriger, als durch einen blöden Unfall für den Rest des Lebens verkrüppelt zu sein!< Den Baum, von dem Tim gestürzt war, hatte man längst gefällt, doch keiner von uns würde ihn je vergessen. Eben noch war Tim gerannt, gesprungen und geritten, und im nächsten Augenblick war er querschnittsgelähmt. Er hatte recht: Manchmal ist es eine Scheißwelt.
    Und doch erinnerte ich Tim daran, daß meiner Meinung nach jeder, der nach Washington kommt, das Vietnam Veterans Memorial besuchen und mit den Fingern über die Mauern streichen sollte, um der Toten zu gedenken und sie zu ehren. Diese Mauern sind genug; das Denkmal der drei Soldaten und der drei Frauen am Eingang und selbst die Fahne, die hier aufgezogen ist, sind meiner Überzeugung

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