Der Bestseller
sah mich an. »Ja, das glaube ich«, sagte er. »Und weil ich nichts beweisen kann und kein Journalist bin, werde ich die Geschichte in einem Roman verarbeiten und den Fall lösen, wenn ich kann. Was halten Sie davon, Nick?«
Ich ging zu dem niedrigen Bücherregal, auf dem die Bronzebüste meines Vaters stand, und zog eine Volksausgabe von Edgar Allan Poe heraus.
» Der Fall Marie Roget«, sagte ich, »basiert auf dem Mord an einer jungen New Yorkerin namens Mary Rogers. Poe versuchte mit dieser Erzählung den Fall durch rein analytisches Denken zu lösen.«
»Und ist es ihm gelungen?« fragte Poole.
»Nein. Er behauptete, den Fall gelöst zu haben, aber seine Lösung bestand aus spärlichen Andeutungen. Tatsächlich wurde der Mord nie aufgeklärt.«
»Vielleicht habe ich mehr Glück«, sagte Poole. Er lächelte. »Einen Versuch wäre es wert.«
»Unbedingt. Schreiben Sie das Buch. Und lassen Sie mich wissen, wie Sie vorankommen.«
Als Poole gegangen war, wandte ich mich den Notizen, Briefen und telefonischen Nachrichten zu, die ich zugunsten von Foxcrofts Papierbergen hatte warten lassen.
Ein Briefumschlag stach mir ins Auge: Er war hellgrün und leicht parfümiert. Auf der Rückseite stand »ssm«. Ich riß ihn auf.
»Nick, Lieber«, las ich, »nur sieben kleine Worte: Ruf mich an, wenn du mich brauchst. In Liebe, Susan.«
Ich nahm den Telefonhörer ab und wählte ihre Nummer. Es klingelte viermal, dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein. »Hier ist Susan Markham. Ich kann Ihren Anruf im Augenblick nicht selbst entgegennehmen, aber wenn Sie Ihren Namen und Ihre Rufnummer hinterlassen, rufe ich Sie so bald wie möglich zurück.« Piep.
»Hallo, Susan«, sagte ich. »Ich würde dein Briefpapier überall wiedererkennen — es hat dieselbe Farbe wie deine Augen. Und dein Parfüm würde ich auch überall wiedererkennen — der Geruch ist noch an einem Kopfkissen in meinem Schlafzimmer. Und wenn ich deine Stimme höre, denke ich an leise Klaviermusik in einer schummrig beleuchteten Cocktailbar. Nur drei kleine Worte: Du fehlst mir.« Kaum hatte ich das gesagt, da schaltete sich der Anrufbeantworter auch schon ab.
Ich wandte mich wieder der Arbeit zu, die hauptsächlich daraus bestand, Briefe zu unterschreiben und Memos abzuzeichnen, die ich zuvor, zwischen den Besprechungen mit Poole, diktiert hatte.
Kurz vor fünf kam ein Anruf von Alex Margolies.
»Wir haben Frederick Drew aus dem Kerker befreit«, sagte er. »Das heißt, Svenson hat ihn rausgehauen. Aber am Dienstag ist die Anklageerhebung, und dann werden wir wahrscheinlich Kaution stellen müssen. Sind Sie bereit zu bürgen?«
Ich schluckte hart und sagte ja. Mortimer Mandelbaum würde das gar nicht gefallen. Meiner Mutter würde es ebenfalls nicht gefallen. Tim würde wahrscheinlich denken, daß ich nicht nur ein weiches Herz hatte, sondern langsam auch einen weichen Kopf bekam. Warum also tat ich das? Ich glaubte, Drew zu kennen. Er würde nicht fliehen, und er war unschuldig. Das dachte ich jedenfalls.
»Ich werde Sie auf dem laufenden halten«, sagte Alex. »Er ist Ihnen übrigens sehr dankbar. Ich glaube, er hat vor, Ihnen eine Reihe von Sonetten zu widmen.«
»Das freut mich.«
»Ein schönes Wochenende, Nick.«
»Danke, ebenfalls. Shalom aleichem .«
Ich war zu dem Schluß gekommen, daß es vielleicht nicht so ratsam war, mich nach Einbruch der Dunkelheit in den Räumlichkeiten von Barlow & Company aufzuhalten, und so steckte ich ein paar Kapitel von Sarah Goodalls Detektivroman in meinen Aktenkoffer und ging hinaus.
Es war halb sechs, als ich auf die Straße trat, und die Hitze war erdrückend. In New York kann es im Sommer so heiß wie in Kalkutta sein — aber nicht Mitte Juni, sondern meistens erst im Juli oder August. Doch jetzt war es so hot hot hot und die Luft so feucht, daß ich sofort zu schwitzen begann. Ich ging zum Straßenrand und wartete, daß die Ampel auf Grün schaltete.
Den Mann, der sich mir von rechts näherte, bemerkte ich erst, als er mich plötzlich am Ärmel packte und grob zur Seite riß. Gleichzeitig spürte ich, daß etwas unmittelbar neben mir zu Boden stürzte, ohne mich jedoch zu berühren. Als es auf dem Bürgersteig zerschellte, flog ein Splitter hoch und traf meine Wange.
»Mein Gott «, rief ich. Eigentlich hatte ich etwas über die Rücksichtslosigkeit des Fremden sagen wollen, doch mir wurde klar, daß er mir zweifellos das Leben gerettet hatte. »Was ist passiert?«
»Alles in Ordnung?«
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