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Der Besuch der alten Dame

Der Besuch der alten Dame

Titel: Der Besuch der alten Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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ZACHANASSIAN Genevieve.
    ILL Hübscher Name.
    CLAIRE ZACHANASSIAN Ich sah das Ding nur einmal. Bei der Geburt. Dann wurde es genommen. Von der christlichen Fürsorge.

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    ILL Die Augen?
    CLAIRE ZACHANASSIAN Die waren noch nicht offen.
    ILL Die Haare?
    CLAIRE ZACHANASSIAN Schwarz, glaube ich, doch das sind sie ja oft bei Neugeborenen.
    ILL Das ist wohl so.

    Schweigen. Rauchen. Gitarre.

    ILL Bei wem ist es gestorben?
    CLAIRE ZACHANASSIAN Bei Leuten. Ich habe die Namen vergessen.
    ILL Woran?
    CLAIRE ZACHANASSIAN Hirnhautentzündung. Vielleicht auch etwas anderes. Ich erhielt eine Karte von der Behörde.
    ILL Bei Todesfall kann man sich auf die verlassen.
    Schweigen.

    CLAIRE ZACHANASSIAN Ich erzählte dir von unserem Mädchen. Nun erzähl von mir.
    ILL Von dir?
    CLAIRE ZACHANASSIAN Wie ich war, als ich siebzehn war, als du mich liebtest.
    ILL Mußte dich einmal lange suchen in der Peterschen Scheune, fand dich in der Droschke im bloßen Hemd mit einem langen Strohhalm zwischen den Lippen.
    CLAIRE ZACHANASSIAN Du warst stark und mutig. Hast gegen den Eisenbähnler gekämpft, der mir nachstrich. Ich wischte dir das Blut aus dem Gesicht mit meinem roten Unterrock.
    Das Gitarrenspiel schweigt.

    CLAIRE ZACHANASSIAN Die Ballade ist zu Ende.
    ILL Noch >O Heimat süß und hold<.
    CLAIRE ZACHANASSIANKann Roby auch.

    Neues Gitarrenspiel.

    ILL Nun ist es soweit. Wir sitzen zum letzten Mal in unserem bösen Wald voll Kuckuck und Windesrauschen.

    Die Bäume bewegen ihre Äste.

    ILL Heute abend versammelt sich die Gemeinde. Man wird mich zum Tode verurteilen, und einer wird mich töten. Ich weiß nicht, wer er sein wird und wo es geschehen wird, ich weiß nur, daß ich ein sinnloses Leben beende.
    CLAIRE ZACHANASSIAN Ich liebte dich. Du hast mich verraten. Doch den Traum von Leben, von Liebe, von Vertrauen, diesen einst wirklichen Traum habe ich nicht vergessen. Ich will ihn wieder errichten mit meinen Milliarden, die Vergangenheit ändern, indem ich dich vernichte.
    ILL Ich danke dir für die Kränze, die Chrysanthemen und Rosen.
    Erneutes Windesrauschen.

    ILL Machen sich schön auf dem Sarg im Goldenen Apostel. Vornehm.
    CLAIRE ZACHANASSIAN Ich werde dich in deinem Sarg nach Capri bringen. Ließ ein Mausoleum errichten im Park meines Palazzos. Von Zypressen umgeben. Mit Blick aufs Mittelmeer.
    ILL Kenne ich nur von Abbildungen.
    CLAIRE ZACHANASSAN Tiefblau. Ein grandioses Panorama. Dort wirst du bleiben. Bei mir.
    ILL Nun ist auch >O Heimat süß und hold< zu Ende.

    Gatte IX kommt zurück.

    CLAIRE ZACHANASHAN Der Nobelpreisträger. Kommt von seiner Ruine. Nun, Zoby?
    GATTE IX Frühchristlich. Von den Hunnen zerstört.
    CLAIRE ZACHANASSIAN Schade. Deinen Arm. Die Sänfte, Roby und Toby.

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    Sie besteigt die Sänfte.

    CLAIRE ZACHANASSIAN Adieu, Alfred.
    ILL Adieu, Klara.

    Die Sänfte wird nach hinten getragen, Ill bleibt auf der Bank sitzen. Die Bäume legen ihre Zweige fort.
    Von obensenkt sich ein Theaterportal herunter mit den üblichen Vorhängen und Drapierungen, Inschrift
    >Ernst ist das Leben, heiter die Kunst<. Aus dem Hintergrund kommt der Polizist in einer neuen, prächtigen Uniform, setzt sich zu Ill. Ein Radioreporter kommt, beginnt ins Mikrophon zu reden, während sich die Güllener versammeln. Alles in neuer feierlicher Kleidung, alles im Frack. Überall Pressephotographen, Journalisten, Filmkameras.

    DER RADIOSPRECHER Meine Damen und Herren. Nach den Aufnahmen im Geburtshaus und dem Gespräch mit dem Pfarrer wohnen wir einem Gemeindeanlaß bei. Wir kommen zum Höhepunkt des Besuches, den Frau Claire Zachanassian ihrem ebenso sympathischen wie gemütlichen Heimatstädtchen
    abstattet. Zwar ist die berühmte Frau nicht zugegen, doch wird der Bürgermeister in ihrem Namen eine wichtige Erklärung abgeben. Wir befinden uns im Theatersaal im Goldenen Apostel, in jenem Hotel, in welchem Goethe übernachtete. Auf der Bühne, die sonst Vereinsanlässen dient und den Gastvorstellungen des Kalberstädter Schauspielhauses, versammeln sich die Männer. Nach alter Sitte
    - wie der Bürgermeister eben informierte. Die Frauen befinden sich im Zuschauerraum - auch dies Tradition. Feierliche Stimmung, die Spannung außerordentlich, die Filmwochenschauen sind
    hergefahren, meine Kollegen vom Fernsehen, Reporter aus aller Welt, und nun beginnt der
    Bürgermeister zu reden.

    Der Reporter geht mit dem Mikrophon zum Bürgermeister, der in der Mitte der Bühne steht, die Männer von Güllen im Halbkreis um ihn.

    DER

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