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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H.G. Wells
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Unterbrechung einem Berg von vertrauten Notenheften zugewandt. „Was halten Sie von dieser Barcarole von Spohr?“ sagte er über die Schulter.
    „Ich nehme an, Sie kennen das Stück?“ Der Engel war verwirrt.
    Er öffnete das Heft vor dem Engel.
    „Was für ein komisches Buch!“ sagte der Engel. „Was bedeuten all diese verrückten Punkte?“ (Bei diesen Worten gefror dem Vikar das Blut in den Adern.)
    „Welche Punkte?“ sagte der Kurat.
    „Da!“ sagte der Engel und deutete mit anklagendem Finger hin.
    „Oh, nun hören Sie aber auf!“ sagte der Kurat. Es folgte eines der flüchtigen, kurzen Schweigen, die bei gesellschaftlichen Zusammenkünften so viel zu bedeuten haben.
    Dann wandte sich die älteste Miss Papaver zum Vikar. „Spielt Mr. Engel nach den üblichen ... Musik – nach den üblichen Notenzeichen?“
    „Das habe ich nie gehört“, sagte der Vikar, der jetzt, nach dem ersten Schrecken, rot wurde. „Ich habe wirklich nie gesehen ...“ Der Engel merkte, daß die Atmosphäre gespannt war, obwohl er nicht verstand, weshalb. Er wurde des argwöhnischen, unfreundlichen Ausdrucks in den Augenpaaren, die ihn betrachteten, gewahr. „Unmöglich!“ hörte er Mrs. Pirbright sagen; „nach dieser herrlichen Musik.“ Die älteste Miss Papaver trat sogleich zu Lady Hammergallow hin und begann, in ihr Hörrohr hinein zu erklären, daß Mr. Engel nicht mit Mr. Wilmerdings spielen wolle und ein Unvermögen vortäuschte, nach Noten zu spielen.
    „Er kann nicht nach Noten spielen!“ sagte Lady Hammergallow im Ton bemessenen Entsetzens. „Unsinn!“
    „Noten!“ sagte der Engel verwirrt. „Sind das Noten?“
    „Er treibt den Scherz zu weit – nur weil er nicht mit Wilmerdings spielen will“, sagte Mr.

Rathbone Slater zu George Harringay.
    Es folgte eine erwartungsvolle Pause. Der Engel erkannte, daß er sich schämen sollte. Er schämte sich.

    „Dann“, sagte Lady Hammergallow, warf ihren Kopf zurück und sprach mit überlegter Entrüstung, während sie nach vorn rauschte,
    „wenn Sie nicht mit Mr. Wilmerdings spielen können, fürchte ich, kann ich Sie nicht mehr bitten, noch einmal zu spielen.“ Sie ließ es wie ein Ultimatum klingen. Die Brille in ihrer Hand zitterte heftig, so entrüstet war sie. Der Engel war bereits Mensch genug, um wahrzunehmen, daß er vernichtet war.
    „Was ist los?“ sagte die kleine Lucy Rustchuck, die im entfernteren Seitenerker war.
    „Er hat sich geweigert, mit dem alten Wilmerdings zu spielen“, sagte Tommy Rathbone Slater. „Was für ein toller Streich! Das alte Mädchen ist rot vor Zorn. Sie hält eine Menge von diesem Esel Wilmerdings.“
    „Vielleicht, Mr. Wilmerdings, wollen Sie uns mit dieser köstlichen Polonaise von Chopin beehren“, sagte Lady Hammergallow. Alle anderen waren still. Lady Hammergallows Entrüstung löste eine ähnliche Stille aus wie ein drohendes Erdbeben oder eine Sonnenfinsternis. Mr. Wilmerdings erkannte, daß er einen gesellschaftlichen Hilfsdienst leistete, wenn er sogleich begann, und (es sei ihm als Verdienst angerechnet, nun da er seine Schuldigkeit bald getan hat) er begann.
    „Wenn ein Mann vorgibt, eine Kunst auszuüben“, sagte George Harringay, „sollte er wenigstens so gewissenhaft sein, die Grundvoraussetzungen dieser Kunst zu erlernen. Was meinen ...“
    „Oh! Das ist auch meine Meinung“, sagte die jüngere Miss Pirbright.
    Dem Vikar war, als sei der Himmel über ihm eingestürzt. Er saß zusammengekauert in seinem Stuhl, ein gebrochener Mann. Lady Hammergallow setzte sich neben ihn und schien ihn zu übersehen. Ihr Atem ging schwer, aber ihr Gesicht wirkte erschreckend ruhig. Man nahm Platz. War der Engel empörend unwissend oder empörend unverschämt? Der Engel war sich undeutlich einer schrecklich beleidigenden Handlungsweise bewußt, war sich bewußt, daß er auf irgendeine rätselhafte Weise aufgehört hatte, der Mittelpunkt der Versammlung zu sein. Er sah vorwurfsvolle Verzweiflung in den Augen des Vikars. Er zog sich langsam in die Fensternische zurück und setzte sich auf einen kleinen achteckigen maurischen Hocker neben Mrs. Jehoram. Und unter den gegebenen Umständen bewertete er Mrs.
    Jehorams freundliches Lächeln höher, als es dies verdiente. Er legte die Violine auf die Fensterbank.

35
    Mrs. Jehoram und der Engel abseits – Mr. Wilmerdings spielte.
    „Ich habe mich so sehr nach einem Gespräch in aller Ruhe mit Ihnen gesehnt“, sagte Mrs.
    Jehoram leise, „um Ihnen zu sagen, wie

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