Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H.G. Wells
Vom Netzwerk:
entzückend ich Ihr Spiel fand.“
    „Es freut mich, daß es Ihnen gefallen hat“, sagte der Engel.
    „Gefallen ist kaum das richtige Wort“, sagte Mrs. Jehoram. „Ich war bewegt – zutiefst bewegt. All die anderen haben es nicht verstanden ... Ich war froh, daß Sie nicht mit ihm gespielt haben.“
    Der Engel sah den Mechanismus, genannt Wilmerdings, an und war auch froh. (Für Engel ist Duett eine Art Wechselgespräch mit Geigen.) Aber er sagte nichts.
    „Musik ist mir heilig“, sagte Mrs. Jehoram.
    „Ich habe keine Ahnung von der Technik, aber irgend etwas liegt in ihr – ein Sehnen, ein Wunsch ...“
    Der Engel starrte sie an. Sie erwiderte seinen Blick.
    „Sie verstehen das“, sagte sie. „Ich merke, daß Sie es verstehen.“ Er war wirklich ein netter Junge, vielleicht frühreif, was seine Gefühle anlangte, und seine Augen waren wundervoll strahlend.
    Ein Intervall von Chopin (op. 40) wurde mit unnachahmlicher Präzision gespielt.
    Mrs. Jehoram hatte noch immer ein hübsches Gesicht, im Dunkeln, wobei das Licht über ihr goldenes Haar fiel, und plötzlich kam dem Engel eine merkwürdige Theorie in den Sinn. Der wahrnehmbare Puder bestärkte noch die Ahnung von etwas unendlich Hellem und Liebenswürdigem, das gefangen, getrübt, verroht und verhüllt wurde.
    „Bist du?“ sagte der Engel leise. „Bist du ... getrennt von ... deiner Welt?“
    „So wie Sie“, flüsterte Mrs. Jehoram.
    „Da ist es so – kalt“, sagte der Engel. „So roh!“ Er meinte damit die ganze Welt.
    „Ich spüre es auch“, sagte Mrs. Jehoram und bezog sich auf Siddermorton Haus.
    „Es gibt Leute, die nicht ohne Mitgefühl leben können“, sagte sie nach einer verständnisvollen Pause. „Und Zeiten, in denen man sich allein fühlt auf der Welt. Und man kämpft gegen das alles an. Lacht, kokettiert, verbirgt den Schmerz ...“
    „Und hofft“, sagte der Engel mit einem wundervoll strahlenden Blick – „Ja.“ Mrs. Jehoram (die leidenschaftlich gern kokettierte) entschied, daß der Engel die Erwartungen, die sein Äußeres weckte, noch übertraf. (Zweifellos betete er sie an.) „Suchen Sie Mitgefühl?“ sagte sie. „Oder haben Sie es gefunden?“
    „Mir scheint“, sagte der Engel sehr sanft und beugte sich vor, „mir scheint, ich habe es gefunden.“ Wieder ein Intervall von Chopin op. 40. Die allerälteste Miss Papaver und Mrs. Pirbright flüsterten. Lady Hammergallow (die Brille vor den Augen) warf einen unfreundlichen Blick durch den Salon auf den Engel. Mrs. Jehoram und der Engel tauschten gerade tiefe und vielsagende Blicke.
    „Sie“, sagte der Engel (Mrs. Jehoram machte eine Bewegung), „heißt Delia. Sie ist ...“
    „Delia!“ sagte Mrs. Jehoram schneidend und wurde sich allmählich eines schrecklichen Mißverständnisses bewußt. „Ein sonderbarer Name ... Aber! ... Nein! Nicht das kleine Dienstmädchen im Pfarrhaus? ...“ Die Polonaise endete mit einem Tusch. Der Engel war über den geänderten Gesichtsausdruck Mrs. Jehorams recht überrascht.
    „Das habe ich nie getan!“ sagte Mrs. Jehoram und faßte sich langsam. „Mich zu Ihrer Vertrauten in einer Affäre mit einem Dienstboten zu machen. Wirklich, Mr. Engel, man kann auch die Originalität übertreiben ...“ Dann wurde ihr Gespräch plötzlich unterbrochen.

36
    Dieser Abschnitt ist (soweit ich mich erinnern kann) der kürzeste des Buches.
    Aber die Ungeheuerlichkeit der Beleidigung macht die Absonderung dieses Abschnittes von allen anderen notwendig.
    Der Vikar, müssen Sie wissen, hatte sein Bestes getan, um dem Engel die gängigen Eigenschaften, die einen Gentleman hervorheben, einzuschärfen. „Lassen Sie niemals zu, daß eine Dame irgend etwas trägt“, sagte der Vikar.
    „Sagen Sie, ,gestatten Sie’, und helfen Sie ihr.“
    „Bleiben Sie immer so lange stehen, bis alle Damen Platz genommen haben.“ „Stehen Sie immer auf, um der Dame die Tür zu öffnen ...“ und so weiter. (Alle Männer, die ältere Schwestern haben, kennen diesen Sittenkodex.) Und der Engel (der es verabsäumt hatte, Lady Hammergallow die Teetasse abzunehmen) eilte mit erstaunlicher Gewandtheit hinzu (Mrs.
    Jehoram auf der Fensterbank zurücklassend), entriß mit einem eleganten „Gestatten Sie“ dem hübschen Stubenmädchen Lady Hammergallows das Teetablett und verschwand eilfertig wieder. Der Vikar sprang mit einem unartikulierten Schrei auf.

37
    „Er ist betrunken!“ sagte Mr. Rathbone Slater und brach damit ein furchtbares Schweigen.
    „Das ist

Weitere Kostenlose Bücher