Der Besuch
undeutlich, und die Flügel schienen bleigrau zu sein.
Er fing an, einige Schritte zu laufen, schlug mit den Flügeln und hüpfte und ging zwischen den fließenden Lichtflek-ken und Schatten unter den Bäumen hin und her. Delia beobachtete ihn erstaunt. Er stieß einen verzagten Schrei aus und sprang höher. Seine geschrumpften Flügel leuchteten auf und sanken wieder herab. Ein dichterer Flecken im Wolkenschleier hüllte alles in Dunkelheit. Er schien eineinhalb oder zwei Meter vom Boden abzuspringen und plump herunterzufallen. Sie sah ihn in dem trüben Licht am Boden kauern, und dann hörte sie ihn schluchzen.
„Er ist verletzt!“ sagte Delia, preßte ihre Lippen fest zusammen und starrte in die Finsternis. „Ich sollte ihm helfen.“ Sie zögerte, dann stand sie auf und huschte schnell zur Tür, glitt leise die Stufen hinunter und hinaus in den Mondschein. Der Engel lag noch immer auf dem Rasen und schluchzte ganz erbärmlich.
„Oh, was ist los mit Ihnen?“ sagte Delia, beugte sich über ihn und berührte schüchtern seinen Kopf.
Der Engel hörte auf zu schluchzen, setzte sich plötzlich auf und starrte sie an. Er sah ihr Gesicht, vom Mond beschienen, und ganz weich vor Mitleid. „Was ist los?“ flüsterte sie. „Sind Sie verletzt?“
„Meine Flügel“, sagte der Engel. „Ich kann meine Flügel nicht gebrauchen.“
Delia verstand nicht, aber sie erkannte, daß es etwas Furchtbares war. „Es ist finster, es ist kalt“, flüsterte der Engel; „ich kann meine Flügel nicht gebrauchen.“ Es schmerzte sie unsagbar, die Tränen in seinem Gesicht zu sehen. Sie wußte nicht, was sie tun sollte.
„Bedauere mich, Delia“, sagte der Engel und streckte ihr plötzlich seine Arme entgegen;
„bedauere mich.“
Instinktiv kniete sie nieder und nahm sein Gesicht in ihre Hände. „Ich weiß nicht“, sagte sie; „aber es tut mir leid. Sie tun mir leid, aus ganzem Herzen.“
Der Engel sagte kein Wort. Er blickte mit einem Ausdruck fassungslosen Staunens in ihr kleines Gesicht im hellen Mondschein. „Diese seltsame Welt!“ sagte er.
Plötzlich zog sie ihre Hände zurück. Eine Wolke verdeckte den Mond. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ flüsterte sie. „Ich würde alles tun, um Ihnen zu helfen.“
Er hielt sie in Armeslänge vor sich, während Verwirrung den Jammer in seinem Gesicht verdrängte. „Diese seltsame Welt!“ wiederholte er.
Beide flüsterten, sie kniend, er sitzend, im zitternden Mondlicht und in der Finsternis des Rasens.
„Delia!“ sagte Mrs. Hinijer, die sich plötzlich aus ihrem Fenster beugte; „Delia, bist du das?“ Beide sahen bestürzt zu ihr hoch.
„Komm sofort herein, Delia“, sagte Mrs. Hinijer. „Wenn dieser Mr. Engel ein Gentleman wäre, was er aber nicht ist, würde er sich schämen. Und du als Waise auch!“ 47
Am Morgen des nächsten Tages ging der Engel, nachdem er gefrühstückt hatte, hinaus in Richtung Moor, und Mrs. Hinijer hatte eine Unterredung mit dem Vikar. Was geschah, braucht uns jetzt nicht zu beschäftigen. Der Vikar war sichtlich aus der Fassung gebracht. „Er muß gehen“, sagte er; „ganz sicher muß er gehen“, und vergaß im allgemeinen Durcheinander sogleich die besondere Beschuldigung. Er verbrachte den Morgen mit angestrengtem Nachdenken, unterbrochen vom krampfhaften Studium der Preisliste von Skiff and Waterlow und des Kataloges der Warenhäuser für Mediziner, Schulen und Geistliche. Allmählich entstand auf einem Blatt Papier, das er vor sich auf dem Pult liegen hatte, eine Tabelle. Er schnitt ein Formular aus dem Teil aus, der der Schneiderbranche gewidmet war, in das man selbst seine Maße eintragen konnte, und heftete es an die Vorhänge des Arbeitszimmers.
Und folgende Notizen entstanden:
„1 Schwarzer Melton Überrock. Modelle? £ 3, 10s.
? Hose. Zwei oder eine.
1 Cheviot Tweed Anzug (wegen Muster schreiben.
Selbst Maß nehmen?)“
Der Vikar verbrachte geraume Zeit damit, ein hübsches Sortiment von Herrenmodellen zu studieren. Sie sahen alle recht attraktiv aus, aber er konnte sich den Engel nur schwer in diesen Modellen vorstellen. Denn, obwohl sechs Tage vergangen waren, hatte der Engel noch immer keinen eigenen Anzug. Der Vikar hatte geschwankt zwischen dem Plan, den Engel nach Portburdock zum Maßnehmen für einen Anzug zu bringen und seinem unüberwindlichen Schauder vor dem schmeichlerischen Getue seines Schneiders. Er wußte, der Schneider würde eine ausführliche Erklärung verlangen. Außerdem wußte man
Weitere Kostenlose Bücher