Der Besucher - Roman
und seine Schwester hätten seine Mutter schon mit ihrer Geburt enttäuscht. Doch Mrs. Ayres wirkte inzwischen so verzweifelt, dass ich ihr das lieber ersparen wollte. Stattdessen nahm ich wieder ihre Hand und sagte mit fester Stimme: »Sie steigern sich da in etwas hinein. Sie sind krank und erschöpft. Wenn man eine solche Aufregung hinter sich hat, ist das auch nicht verwunderlich.«
Sie blickte mich an und war nur zu gern bereit, mir zu glauben. »Meinen Sie wirklich?«
»Da bin ich ganz sicher. Sie müssen die Vergangenheit ruhen lassen. Über längst Vergangenem zu brüten bringt uns auch nicht weiter. Letzten Endes ist es doch nicht wichtig, was Rods Krankheit verursacht hat. Wichtig ist vielmehr, wie wir dafür sorgen können, dass er wieder gesund wird.«
»Aber angenommen, die Sache sitzt schon zu tief? Wenn er nun nicht mehr geheilt werden kann?«
»Natürlich kann er geheilt werden. Sie reden ja gerade so, als sei ihm nicht mehr zu helfen! Mit der richtigen Betreuung und Pflege …«
Sie schüttelte den Kopf und hustete wieder. »Wir können uns hier nicht um ihn kümmern. Caroline und ich haben einfach nicht die Kraft dazu. Erinnern Sie sich: Wir haben das alles schon einmal durchgemacht.«
»Wie wäre es dann mit einer Krankenschwester?«
»Ich glaube nicht, dass eine Krankenschwester mit ihm fertig würde.«
»Ach, das denke ich schon …«
Sie wandte verlegen den Blick ab und sagte beinahe schuldbewusst: »Caroline hat mir erzählt, dass Sie ein Krankenhaus erwähnt haben.«
Nach kurzem Zögern erwiderte ich: »Ja. Ich hatte ursprünglich gehofft, dass ich Rod davon überzeugen könnte, sich freiwillig dorthin zu begeben. Ich hatte da an eine Privatklinik gedacht, die sich auf solche Fälle spezialisiert hat. Auf psychische Störungen.«
»Psychische Störungen«, wiederholte sie.
Rasch sagte ich: »Lassen Sie sich von dieser Formulierung nicht allzu sehr beunruhigen. Der Begriff umfasst die verschiedensten Leiden. Die Klinik ist in Birmingham, und man geht dort sehr diskret vor. Allerdings ist sie nicht ganz billig. Ich fürchte, dass selbst mit Rods Invalidenrente die Kosten noch beträchtlich sein werden. Vielleicht wäre am Ende eine verlässliche Krankenschwester, hier auf Hundreds, die bessere Wahl …«
»Ich habe Angst, Dr. Faraday«, sagte sie. »Eine Krankenschwester kann auch nicht alles auffangen. Stellen Sie sich vor, wenn Roderick wieder ein Feuer legt! Beim nächsten Mal würde es ihm womöglich gelingen, Hundreds bis auf die Grundmauern niederzubrennen oder sich dabei umzubringen – oder seine Schwester, oder mich – oder eine der Hausangestellten! Haben Sie mal daran gedacht? Nicht auszudenken, was dann käme! Ermittlungen, die Polizei, Zeitungsreporter – und diesmal würde es ernst, nicht wie bei dieser unglückseligen Geschichte mit Gyp. Und was würde dann aus ihm? Bisher wissen alle nur, dass es sich bei dem Feuer um einen Unglücksfall handelte und Roderick am schlimmsten betroffen wurde. Wenn wir ihn jetzt fortschicken, können wir allen erzählen, dass wir ihn lediglich in den Urlaub geschickt haben, fort aus dem winterlichen Warwickshire in wärmere Regionen, damit er sich erholen kann. Meinen Sie nicht auch? Ich bitte Sie jetzt als Freund, nicht nur als unseren Arzt. Bitte helfen Sie uns. Sie haben doch schon so viel für uns getan.«
Ihr Vorschlag klang vernünftig. Zudem war ich mir bewusst, dass ich, was Roderick betraf, die Entscheidung schon zu lange vor mir her geschoben hatte – mit beinahe katastrophalen Folgen. Es würde ihm sicherlich nicht schaden, mal einige Zeit vom Herrenhaus wegzukommen; eigentlich hatte ich ihm das ja schon die ganze Zeit gewünscht. Trotzdem war es ein himmelweiter Unterschied, ob man ihm nahelegte, sich freiwillig in eine Klinik zu begeben, oder ob er zwangsweise dort hingebracht wurde.
»Es wäre sicherlich eine Möglichkeit«, sagte ich. »Natürlich müsste ich noch jemanden hinzuziehen, eine zweite Meinung einholen. Aber wir dürfen nicht voreilig handeln. So schrecklich dieser Vorfall auch gewesen sein mag – er könnte letztendlich sogar dazu führen, dass er aus seinen Wahnvorstellungen gerissen wird. Ich kann mir immer noch nicht vorstellen …«
»Sie haben ihn noch nicht gesehen!«, unterbrach sie mich flüsternd.
Sie hatte den gleichen merkwürdigen Blick, mit dem Caroline mich schon angeschaut hatte. Ich zögerte. »Nein, noch nicht«, erwiderte ich dann.
»Dann gehen Sie doch bitte jetzt zu ihm und reden
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