Der Besucher - Roman
das. Doch so, wie er sich benommen hat und wie er geredet hat, ist uns klar geworden, dass da noch mehr hintersteckt. Ich musste Mutter von den anderen Dingen erzählen. Nun hat sie Angst vor dem, was er als Nächstes tun wird.«
Sie wandte sich ab und hustete wieder, doch diesmal klang der Hustenanfall nicht so schnell wieder ab. Sie hatte zu lange geredet, noch dazu unter großer Anspannung, und es war ein kalter Tag. Sie sah schrecklich erschöpft und krank aus.
Ich führte sie in den kleinen Salon und untersuchte sie dort. Dann ging ich nach oben, um nach ihrer Mutter und ihrem Bruder zu sehen.
Zuerst suchte ich Mrs. Ayres auf. Sie lag, gestützt von einem Berg Kissen, auf ihrem Bett und war in mehrere Bettjäckchen und Tücher gehüllt. Das lange Haar hing ihr offen über die Schultern und ließ ihr Gesicht bleich und spitz wirken. Doch sie war offenkundig froh, mich zu sehen.
»Ach, Dr. Faraday!«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Ist das zu glauben! Schon wieder eine neue Katastrophe. Manchmal kommt es mir beinahe so vor, als würde eine Art Fluch auf meiner Familie lasten. Ich verstehe das einfach nicht. Was haben wir bloß getan? Wen haben wir so gegen uns aufgebracht? Verstehen Sie das?«
Ihre Fragen schienen beinahe ernst gemeint. Während ich einen Stuhl heranzog und die Untersuchung begann, sagte ich: »Sie haben in der letzten Zeit wirklich über die Maßen Pech gehabt. Es tut mir so leid.«
Sie hustete, dabei beugte sie sich vor und sank dann wieder in ihre Kissen zurück. Doch sie hielt den Blick auf mich gerichtet. »Haben Sie sich Rodericks Zimmer angeschaut?« Ich führte das Stethoskop über ihren Rücken. »Einen Moment, bitte … Ja.«
»Haben Sie den Schreibtisch gesehen? Und seinen Sessel?«
»Bitte jetzt mal einen Augenblick lang nicht sprechen.«
Ich hörte ihr den Rücken ab. Dann legte ich das Stethoskop beiseite, und als ich merkte, dass sie mich immer noch in Erwartung einer Antwort anblickte, erwiderte ich: »Ja.«
»Und was halten Sie davon?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich denke, Sie wissen es ganz gut. Ach, Herr Doktor, nie hätte ich gedacht, dass ich eines Tages vor meinem eigenen Sohn Angst haben müsste! Ich male mir dauernd aus, was alles hätte geschehen können. Jedes Mal wenn ich die Augen schließe, sehe ich Flammen!«
Ihr stockte die Stimme. Ein neuerlicher Hustenanfall überkam sie, schlimmer noch als der vorherige. Ich hielt ihre bebenden Schultern fest, während sie hustete, dann gab ich ihr einen Schluck Wasser zu trinken und reichte ihr ein sauberes Taschentuch, mit dem sie sich Augen und Mund abwischen konnte. Erschöpft und mit hochrotem Gesicht ließ sie sich in die Kissen zurücksinken.
»Sie dürfen nicht so viel sprechen«, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich muss sprechen! Ich habe doch niemanden, mit dem ich darüber reden kann. Nur Sie und Caroline. Und Caroline und ich drehen uns immerfort im Kreis. Sie hat mir gestern Dinge erzählt … unvorstellbare Dinge! Ich wollte es erst gar nicht glauben. Sie hat mir erzählt, dass Roderick sich fast wie ein Verrückter benommen hat. Dass es schon vorher Brandspuren in seinem Zimmer gab. Dass sie auch Ihnen die Flecken gezeigt hat.«
Ich rutschte unbehaglich hin und her. »Ja, sie hat mir da etwas gezeigt.«
»Und keiner von Ihnen wollte damit zu mir kommen?«
»Wir wollten Sie nicht unnötig beunruhigen. Wenn ich natürlich geahnt hätte, dass Rodericks Zustand sich so sehr verschlimmern würde …«
Ihre Miene wurde noch betrübter. »Seinen ›Zustand‹ nennen Sie es? Sie wussten also, dass er krank ist?«
»Ich wusste, dass es ihm nicht gut ging«, erwiderte ich. »Um ganz offen zu sein, hatte ich die Vermutung, dass er krank sein könnte. Aber ich habe ihm mein Wort gegeben.«
»Er ist zu Ihnen gekommen und hat Ihnen irgendwelche Geschichten über dieses Haus erzählt, nicht wahr? Dass es hier etwas gäbe, das ihm schaden will. Stimmt das?«
Ich zögerte. »Bitte seien Sie ehrlich zu mir, Herr Doktor«, bat sie mich ernst, fast demütig.
Also sagte ich: »Ja, es stimmt. Es tut mir leid.« Und dann erzählte ich ihr alles, was vorgefallen war: Rods Panikanfall in meiner Praxis, seine groteske, schreckenerregende Geschichte, sein Schmollen und seine Wutanfälle; die indirekten Drohungen, die er ausgesprochen hatte …
Sie hörte schweigend zu. Während ich erzählte, ergriff sie meine Hand. Sie hatte die zerfurchten Fingernägel einer alten Frau; unter ihren Nägeln konnte ich
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