Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
Vom Netzwerk:
immer noch gegen die Lippe. »Ein Traum eben. Ich weiß es nicht mehr. Was spielt das für eine Rolle?«
    »Sie könnten zum Beispiel geträumt haben, dass Sie aufgestanden sind. Dass Sie versucht haben, eine Zigarette anzuzünden oder eine Kerze.«
    Seine Hand verharrte bewegungslos. Er starrte mich ungläubig an. »Sie wollen mir doch wohl nicht einreden, dass alles bloß ein Unfall war?«
    »Ich weiß noch gar nicht, was ich glauben soll.«
    Er rückte in seinem Bett hin und her und wurde immer aufgeregter. »Und das nach allem, was ich Ihnen erzählt habe! Selbst Caroline hat erkannt, dass es kein Unfall war! Sie sagt, es hätte etliche kleine Feuer gegeben! Sie meint, dass diese Flecken in meinem Zimmer ebenfalls von kleinen Feuern herrühren. Von Feuern, die nicht richtig in Gang gekommen sind.«
    »Das wissen wir nicht sicher«, erwiderte ich. »Das werden wir womöglich auch nie erfahren.«
    »Ich weiß es aber! Ich habe es auch vorgestern Nacht gewusst! Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es Streiche geben würde! Warum haben Sie mich alleingelassen? Konnten Sie nicht erkennen, dass ich nicht stark genug war?«
    »Bitte, Rod.«
    Doch er warf sich hin und her, als könne er seine Bewegungen nicht mehr kontrollieren. Er war wie im Delirium; es war schrecklich anzusehen.
    Schließlich packte er meinen Arm. »Und was, wenn Caroline nicht rechtzeitig gekommen wäre?«, rief er mit loderndem Blick. »Das ganze Haus hätte niederbrennen können! Meine Schwester, meine Mutter, Betty …«
    »Rod, beruhigen Sie sich bitte!«
    »Mich beruhigen? Ich bin praktisch ein Mörder!«
    »Seien Sie nicht albern.«
    »Genau das sagen die anderen doch auch, oder?«
    »Niemand sagt etwas.«
    Er verdrehte den Ärmel meines Jacketts. »Aber sie haben recht, verstehen Sie nicht? Ich dachte, ich könnte dieses Etwas in Schach halten, die Infektion eindämmen! Aber ich bin zu schwach. Ich bin schon zu lange damit infiziert. Es verändert mich. Es bringt mich dazu, es zu mögen ! Ich dachte, ich könnte es von Mutter und Caroline fernhalten. Doch die ganze Zeit über hat es durch mich gewirkt, um an sie ranzukommen. Es hat … Was machen Sie denn da?«
    Ich hatte mich von ihm abgewandt und nach meiner Tasche gegriffen. Er sah, wie ich eine Tablettendose herausholte.
    »Nein!«, schrie er und schlug mit der Hand danach, so dass die Dose fortflog. »Nicht so was! Haben Sie denn gar nichts verstanden? Wollen Sie ihm auch noch dabei helfen? Wollen Sie das? Ich darf nicht einschlafen!«
    Sein Schlag gegen meine Hand und der Wahnsinn, der so offensichtlich aus seinen Worten und seiner Miene sprach, machten mir Angst. Aber ich musterte nur besorgt seine rotgeränderten Augen und fragte: »Sie haben nicht geschlafen? Schon seit vorgestern Nacht nicht mehr?« Dann nahm ich sein Handgelenk. Sein Puls raste immer noch.
    Er riss sich los. »Wie soll ich denn schlafen? Es war doch vorher schon schlimm genug.«
    »Aber Rod. Sie müssen doch schlafen«, sagte ich.
    »Das will ich nicht riskieren! Und das würden Sie auch nicht, wenn Sie wüssten, wie es war. Letzte Nacht …«, er senkte die Stimme und blickte sich listig um. »Letzte Nacht habe ich Stimmen gehört. Ich dachte, da wäre etwas an der Tür. Etwas, was kratzt und hereinwill. Dann wurde mir klar, dass das Geräusch in mir drin ist. Dass das, was da kratzte, in mir war und versucht hat, herauszukommen. Es wartet, verstehen Sie. Es ist ja gut und schön, mich einzuschließen, aber wenn ich einschlafe …«
    Er beendete seinen Satz nicht, sondern blickte mich bedeutungsvoll an. Dann zog er die Knie hoch, hielt die Hände vor den Mund und begann wieder, gegen seine Lippen zu schnipsen. Ich erhob mich von seiner Bettkante und sammelte die Tabletten auf, die sich aus der Dose über den Boden verteilt hatten. Dabei merkte ich, dass meine Hand zitterte, denn mir war endlich klar geworden, wie tief er in seinen Wahnvorstellungen gefangen war. Ich erhob mich wieder vom Boden und betrachtete ihn mit hilflosem Blick; dann schaute ich mich im Zimmer um und entdeckte überall traurige kleine Hinweise auf den reizenden, lebhaften Jungen, der er einmal gewesen sein musste: Das Regal mit Abenteuerbüchern, Pokale und Modellflugzeuge, Karten und Schaubilder der Air Force, auf die in der unordentlichen Handschrift eines Halbwüchsigen kleine Notizen hinzugefügt worden waren … Wer hätte schon mit einer solchen Entwicklung gerechnet? Wie war es nur zu einem solchen Verfall gekommen? Plötzlich schien es

Weitere Kostenlose Bücher