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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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mit ihm. Und dann kommen Sie zurück und sagen mir, was Sie denken … Einen Augenblick noch!«
    Ich hatte mich schon erhoben, doch sie winkte mich wieder zurück. Dann öffnete sie die Nachttischschublade und holte etwas heraus. Es war ein Schlüssel.
    Widerstrebend streckte ich die Hand aus.
     
    Sie hatten ihn in das Schlafzimmer gesteckt, in dem er als Halbwüchsiger gewohnt hatte. Dort hatte er vermutlich während der Schulferien und später, bei seinen kurzen Heimaturlauben von der Air Force, geschlafen, ehe er mit dem Flugzeug abgestürzt war. Das Zimmer befand sich gleich um die nächste Biegung der Galerie; zwischen seinem Schlafzimmer und dem seiner Mutter lag lediglich ihr ehemaliges Ankleidezimmer. Die Vorstellung, dass er während unseres Gesprächs die ganze Zeit über dort drinnen gesessen hatte, war nicht angenehm. Und unangenehm war mir auch, dass ich zunächst an die Tür klopfte und mit gespielter Fröhlichkeit seinen Namen rief und dann, als keine Antwort kam, die Tür aufschließen musste wie ein Kerkermeister. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, als ich eintrat. Wahrscheinlich wäre ich kaum überrascht gewesen, wenn er auf mich zugestürzt wäre, um in die Freiheit zu entkommen. Ich weiß noch, dass ich beim Öffnen der Tür einen Schritt zurückwich und mich innerlich auf wütende Beschimpfungen einstellte.
    Doch was ich vorfand, war in gewisser Weise noch schlimmer. Die Vorhänge vor den Fenstern waren halb zugezogen, und es war düster im Zimmer. Es dauerte einen Moment, bis ich im Halbdunkel sah, dass Rod in seinem Bett saß. Er trug einen jungenhaften gestreiften Pyjama und einen alten blauen Morgenmantel. Statt auf die offene Tür zuzustürmen, blieb er bewegungslos auf seinem Bett sitzen und starrte mich an. Eine Hand hielt er vor den Mund, die Finger zu einer lockeren Faust geformt, und schnipste sich in rascher Folge mit dem Daumennagel gegen die Lippen. Selbst in dem unzureichenden Licht und aus einer gewissen Entfernung konnte ich erkennen, wie schlecht er aussah. Beim Näherkommen sah ich seine ungesunde, gelblichweiße Gesichtsfarbe und die geschwollenen, entzündeten Augen. Immer noch schienen Rußspuren in seinen Poren und dem ungewaschenen Haar zu hängen. Er hatte sich nicht rasiert, die Stoppeln verteilten sich unregelmäßig auf seinem vernarbten Gesicht; sein Mund war blutleer, die Lippen hatte er eingezogen. Unangenehm berührt war ich auch von seinem Geruch: Er roch nach Rauch, Schweiß und schlechtem Atem. Unter seinem Bett stand ein Nachttopf, der offenbar kürzlich benutzt worden war.
    Er hielt den Blick auf mich gerichtet, während ich an sein Bett trat, antwortete jedoch nicht, als ich ihn ansprach. Erst als ich neben ihm saß, die Arzttasche aufklappte und vorsichtig seinen Morgenmantel und sein Pyjamaoberteil auseinanderzog, um ihm das Stethoskop auf die Brust zu setzen, brach er sein Schwiegen. »Können Sie es hören?«, sagte er da.
    Seine Stimme klang nur wenig heiser. Ich beugte seinen Oberkörper vor und setzte ihm das Stethoskop auf den Rücken. »Was hören?«
    Sein Mund war dicht neben meinem Ohr. »Sie wissen schon, was«, sagte er.
    »Ich weiß nur, dass Sie genau wie Ihre Mutter und Ihre Schwester vorgestern reichlich Rauch eingeatmet haben. Ich will mich nur vergewissern, dass es Ihnen nicht geschadet hat.«
    »Mir geschadet? Oh nein, das würde es nicht tun! Das will es nicht. Nicht mehr.«
    »Bitte seien Sie mal einen Augenblick still.«
    Ich bewegte den Kopf des Stethoskops. Sein Herz pochte und seine Brust war eng, doch ich konnte keine Spur von Verklebungen oder abgestorbenem Gewebe in seiner Lunge feststellen, daher half ich ihm wieder in sein Kissen zurück und richtete seine Kleidung. Er ließ mich gewähren, doch sein Blick wanderte ab, und bald hielt er wieder die Hand vor den Mund und schnipste sich gegen die Lippe.
    Ich sagte: »Rod, dieses Feuer hat allen einen furchtbaren Schrecken eingejagt. Niemand scheint zu wissen, wie es angefangen hat. An was können Sie sich denn noch erinnern? Können Sie es mir erzählen?« Er schien mich gar nicht zu hören. »Rod?«
    Da wandte er mir wieder den Blick zu und runzelte die Stirn. Gereizt meinte er: »Ich habe es doch schon allen erzählt! Ich kann mich an gar nichts erinnern. Nur dass Sie bei mir im Zimmer waren, und dann kam Betty, und dann kam irgendwann Caroline und hat mich zu Bett gebracht. Ich glaube, ich habe etwas geträumt.«
    »Was war das denn für ein Traum?«
    Er schnipste sich

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