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Der Besucher - Roman

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Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Wie schon gesagt, hatten zu jenem Zeitpunkt alle vermutet, dass ein glühender Ascherest die Ursache gewesen sei. Doch später hatte sich Caroline die Stelle noch einmal genauer angeschaut und dabei auf einem der nahe stehenden Regale eine Schachtel Streichhölzer gefunden. Sie hielt es zwar nicht für besonders wahrscheinlich, aber immerhin für möglich, dass Rod in einem unbeobachteten Moment ein Streichholz hätte nehmen können und die Zeitung selbst angezündet hatte.
    Nun wurde es mir doch zu viel. »Ich möchte Ihre Vermutungen nur ungern infrage stellen, Caroline«, erwiderte ich. »Aber Sie alle haben Schreckliches durchlitten. Da ist es nicht verwunderlich, dass Sie plötzlich noch mehr Flammen gesehen haben.«
    »Denken Sie etwa, dass wir uns die brennende Zeitung bloß eingebildet haben? Alle vier?«
    »Nun ja …«
    »Wir haben uns das nicht eingebildet. Das kann ich Ihnen versichern. Die Flammen waren echt. Und wenn Roddie sie nicht angezündet hat … was war es dann? Das macht mir am meisten Angst, mehr als alles andere. Deshalb glaube ich, dass es Rod gewesen sein muss .«
    Ich hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte, doch sie hatte offenbar große Angst. Ich sagte: »Lassen Sie uns ganz ruhig bleiben. Es gibt keinerlei Beweise, dass das Feuer etwas anderes als ein unglücklicher Zufall war, oder?«
    Sie erwiderte: »Da bin ich mir nicht so sicher. Ich frage mich zum Beispiel, was ein Polizist daraus machen würde. Sie haben doch gehört, dass Pagets Fahrer gestern hier war und uns Fleisch gebracht hat? Er hat den Brandgeruch gerochen, ist ums Haus herumgegangen und hat durch die Fenster geschaut, ehe ich ihn aufhalten konnte. Er war während des Krieges beim Brandschutz in Coventry, müssen Sie wissen. Ich habe ihm irgendwelchen Blödsinn über einen kaputten Ölofen erzählt, doch ich merkte, dass er sich sehr genau umgeschaut hat. Ich konnte ihm ansehen, dass er mir nicht geglaubt hat.«
    »Aber was Sie da andeuten, ist einfach ungeheuerlich! Sich vorzustellen, dass Rod kaltblütig im Zimmer umhergegangen ist und …«
    »Ich weiß! Ich weiß doch selbst, dass es schrecklich ist. Und ich sage auch gar nicht, dass er es absichtlich getan hat, Herr Doktor. Ich glaube nicht, dass er irgendjemandem etwas zuleide tun wollte. Das mag ich nun wirklich nicht glauben. Aber…« Sie verzog verzweifelt das Gesicht. »Kann es nicht sein, dass Menschen manchmal schreckliche Dinge tun und sich dessen nicht einmal bewusst sind?«
    Ich antwortete nicht. Ich betrachtete wieder die zerstörten Möbel: den Sessel, den Tisch, den Schreibtisch mit seiner verkohlten Platte, ebenjenen Tisch, an dem ich Rod so oft hatte vor sich hin brüten sehen, der Verzweiflung nahe. Ich erinnerte mich wieder, wie er ein paar Stunden vor Ausbruch des Brandes seinem Vater gezürnt hatte, seiner Mutter, ja dem ganzen Besitz. Heute Nacht wird es wieder Streiche geben , hatte er beinahe kokett zu mir gesagt; und ich – ich hatte meinen Blick in die Düsternis des Raumes gewandt und auf Wänden und Decke diese schrecklichen schwarzen Flecken gesehen – ein regelrechtes Gewimmel.
    Ich presste die Finger gegen die Stirn. »Ach, Caroline! Das ist ja eine furchtbare Geschichte. Ich fühle mich mitverantwortlich.«
    »Wie meinen Sie das?«, fragte sie.
    »Ich hätte Ihren Bruder niemals allein lassen dürfen. Ich habe ihn im Stich gelassen. Ich habe Sie alle im Stich gelassen … Wo ist er jetzt? Was sagt er zu dem Ganzen?«
    Wieder blickte sie so merkwürdig drein. »Wir haben ihn in sein altes Zimmer im Obergeschoss gebracht. Aber wir bekommen einfach kein vernünftiges Wort aus ihm heraus … Er … Er ist in einem furchtbaren Zustand. Auf Bettys Stillschweigen können wir uns wohl verlassen, aber wir möchten nicht, dass Mrs. Bazeley ihn so sieht. Niemand soll ihn so sehen, wenn es sich irgendwie verhindern lässt. Die Rossiters sind gestern vorbeigekommen, aber ich musste sie wieder wegschicken, aus Angst, dass er irgendwelches Theater machen würde. Es ist nicht der Schock – es ist irgendetwas anderes. Mutter hat ihm die Zigaretten weggenommen … und auch alles andere, was gefährlich sein könnte. Sie …« Ihre Augenlider flatterten und ihre Wangen röteten sich leicht. »Sie hat ihn in seinem alten Zimmer eingeschlossen.«
    »Ihn eingeschlossen?« Ich konnte es kaum glauben.
    »Sie hat sich ihre Gedanken über das Feuer gemacht, genau wie ich. Auch sie hat zuerst gedacht, dass es ein Unglücksfall gewesen sei, wir alle haben

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