Der Besucher - Roman
wenigstens hört der Regen jetzt auf. Das ist ja immerhin etwas. Ich denke, ich werde gleich mal zur Baustelle hinübergehen, ehe es dunkel wird.« Als sie meinen überraschten Blick sah, fügte sie hinzu: »Ich gehe fast jeden Tag dorthin. Babb hat mir eine Kopie des Terminplans gegeben, und ich arbeite mich gerade hindurch. Er und ich sind inzwischen dicke Freunde!«
»Ich dachte, Sie wollten ursprünglich, dass er die ganze Baustelle umzäunt«, meinte ich.
»Ja, ursprünglich wollten wir das auch. Aber irgendwie ist das Ganze auch schrecklich faszinierend. Wie eine scheußliche Wunde: Man kann nicht anders, als immer wieder unter den Verband zu schauen.« Sie ging vom Fenster zum Wäscheständer, nahm Mantel, Schal und Hut herunter und zog sie an. Währenddessen sagte sie beiläufig zu mir: »Kommen Sie doch mit, wenn Sie Zeit haben.«
Tatsächlich hatte ich sogar Zeit, denn an diesem Tag hatte ich nicht besonders viele Patienten. Doch ich war am Vorabend erst spät ins Bett gekommen und früh wieder aufgewacht und spürte meine Jahre. Offen gestanden war mir wirklich nicht nach einem Spaziergang durch den kalten, nassen Park zumute. Auch fand ich es gegenüber Mrs. Ayres nicht besonders höflich, sie allein hier sitzen zu lassen. Diese jedoch erwiderte angesichts meines zweifelnden Blicks in ihre Richtung bloß: »Aber ja, gehen Sie ruhig mit, Herr Doktor! Ich würde so gern mal die Meinung eines Mannes zu den Bauarbeiten hören.« Darauf konnte ich schlecht nein sagen. Caroline läutete noch einmal nach Betty, und das Mädchen brachte mir Mantel und Hut. Wir legten Holz im Kamin nach und vergewisserten uns, dass Mrs. Ayres gut versorgt war. Um Zeit zu sparen, gingen wir direkt vom kleinen Salon nach draußen, stiegen über den Paravent vor der Terrassentür und gingen über die Steintreppe auf den südlichen Rasen. Das feuchte Gras klebte an unseren Schuhen, durchweichte meine Hosenaufschläge und Carolines Strümpfe. Als der Rasen noch nasser wurde, gingen wir auf Zehenspitzen weiter, reichten einander ungeschickt die Hände und ließen erst wieder los, als wir den trockeneren Kiesweg erreicht hatten, der hinter dem Gartenzaun begann.
Auf der offenen Fläche blies ein kräftiger Wind; wir mussten regelrecht dagegen ankämpfen. Doch wir marschierten zügig voran. Caroline, die offensichtlich froh war, endlich ins Freie zu kommen, gab das Tempo vor und schritt energisch auf ihren langen, kräftigen Beinen voran, so dass ich fast Mühe hatte, mitzuhalten. Sie hatte die Hände tief in den Taschen versenkt, und ihr Mantel spannte sich straff über den Ausbuchtungen von Hüfte und Busen. Ihre Wangen waren vom scharfen Wind leicht gerötet, und die Haare, die sie ungeschickt unter eine ziemlich scheußliche Wollmütze gesteckt hatte, lösten sich hier und dort wieder und flatterten ihr in einzelnen wilden Strähnen ums Gesicht. Sie zeigte keine Spur von Kurzatmigkeit. Anders als ihre Mutter hatte sie die Nachwirkungen des Feuers rasch abgeschüttelt, und die Müdigkeit, die ich kurz zuvor noch auf ihrem Gesicht gesehen hatte, war vollständig verschwunden. Alles in allem strahlte sie Gesundheit und Energie aus. Offenbar hatte ihr die Natur zwar keine strahlende Schönheit, dafür aber unerschütterliche Widerstandskraft verliehen, dachte ich mit einer gewissen Bewunderung.
Ihre Freude an dem Spaziergang war ansteckend. Allmählich wurde mir wärmer, und ich genoss die kräftigen, erfrischenden Windstöße. Auch war es eine neue Erfahrung für mich, zu Fuß im Park unterwegs zu sein, sonst fuhr ich immer mit dem Auto hindurch. Vom Autofenster aus erschien mir der Untergrund immer als ein einförmig grünes Wirrwarr, doch aus der Nähe entdeckte ich plötzlich Ansammlungen von Schneeglöckchen, die sich tapfer im Wind beugten, und hier und dort, wo das Gras weniger dicht wuchs, schoben sich bunte Krokusknospen aus der Erde, als hungerten sie nach Sonnenlicht und frischer Luft. Während wir voranschritten, sahen wir allerdings die ganze Zeit über in der Ferne die Lücke in der Parkmauer und gleich davor den schlammigen Abschnitt, auf dem sich sechs oder sieben Männer mit Schubkarren und Spaten zu schaffen machten. Doch erst als wir näher kamen und ich weitere Einzelheiten erkennen konnte, wurde mir das ganze Ausmaß der Arbeiten bewusst. Die schöne alte Ringelnatterwiese war vollständig verschwunden. Stattdessen war auf etwa hundert Metern Länge der Oberboden abgetragen und eingeebnet worden, und der harte
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