Der Besucher - Roman
vergangenen Monaten ohne Sie zurechtgekommen wären. Sie kennen all unsere Geheimnisse. Sie und Betty. Eine komische Vorstellung! Aber wahrscheinlich gehört es zu Ihrem Beruf, Geheimnisse zu erfahren – und in gewisser Weise auch zu Bettys Arbeit.«
»Ich hoffe doch, ich bin auch Ihr Freund und nicht bloß Ihr Arzt«, sagte ich.
»Oh, das sind Sie!«, erwiderte sie automatisch. Dann besann sie sich und wiederholte noch einmal, mit mehr Wärme und Überzeugung: »Das sind Sie! Aber weiß der Himmel, warum , denn wir bereiten Ihnen eigentlich nichts als Ärger – und davon haben Sie doch bestimmt schon genug mit Ihren Patienten. Haben Sie denn nicht irgendwann die Nase voll von so vielen Plagegeistern?«
»Ich mag all meine Plagegeister«, sagte ich und lächelte.
»Dann geht Ihnen die Arbeit wenigstens nicht aus.«
»Manche sind sicherlich gut für die Arbeit. Andere dagegen mag ich um ihrer selbst willen. Aber das sind in der Regel die Fälle, um die ich mir die meisten Sorgen mache. Und um Sie mache ich mir Sorgen.«
Ich legte eine leichte Betonung auf das »Sie«. Sie lachte zwar, sah aber trotzdem ein wenig beunruhigt aus.
»Meine Güte, aber warum denn? Mir geht es gut. Mir geht es immer gut. Das ist meine ›Macke‹ – wussten Sie das noch nicht?«
»Hmm«, erwiderte ich. »Ich würde Ihren Worten eher Glauben schenken, wenn Sie nicht so müde aussähen. Warum wollen Sie denn nicht wenigstens …«
Sie neigte den Kopf. »Warum will ich was nicht?«
Ich hatte das Thema schon seit Wochen anschneiden wollen, aber irgendwie schien mir der Zeitpunkt nie geeignet. Doch nun sagte ich hastig: »Warum schaffen Sie sich nicht wieder einen Hund an?«
Sofort verschloss sich ihre Miene, und sie wandte sich ab. »Das möchte ich nicht.«
»Am Montag war ich auf der Pease Hill Farm«, fuhr ich fort. »Der Retriever dort ist trächtig, eine wunderhübsche Hündin.« Als ich ihre abwehrende Haltung sah, fügte ich hinzu: »Es denkt doch niemand, dass Sie Gyp ersetzen wollten.«
Doch sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht der Grund. Es … Ich hätte irgendwie das Gefühl, dass es nicht sicher wäre.«
Ich starrte sie an. »Nicht sicher? Für Sie? Oder für Ihre Mutter? Sie dürfen doch nicht glauben, dass das, was mit Gillian geschehen ist …«
»Das meine ich auch gar nicht«, sagte sie. Und dann fügte sie widerstrebend hinzu: »Ich meine: nicht sicher für den Hund.«
»Für den Hund?«
»Ich weiß ja, dass es sich albern anhört.« Sie wandte sich halb ab. »Aber ich muss eben manchmal an Roddie denken und daran, was er über dieses Haus gesagt hat. Wir haben ihn in diese Klinik geschickt. Wir haben ihn weggeschickt, weil das leichter war, als ihm einmal richtig zuzuhören. Wissen Sie, in den letzten Wochen, in denen er hier war, habe ich ihn beinahe gehasst. Aber vielleicht haben ihn erst unsere Hassgefühle so krank gemacht – und dass wir ihm nicht richtig zugehört haben. Angenommen …«
Sie hatte die Ärmel ihres Pullovers heruntergezogen, und sie reichten ihr fast bis zu den Fingerknöcheln. Sie zupfte und knibbelte so lange an der Wolle herum, bis ihre Daumen eine lockere Masche gefunden hatten. Leise sagte sie: »Wissen Sie, manchmal kommt mir dieses Haus wirklich verändert vor. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich anders für das Haus empfinde … oder ob das Haus sich mir gegenüber anders gibt, oder …« Sie sah meinen Blick, und plötzlich veränderte sich ihre Stimme. »Sie müssen mich für verrückt halten.«
Nach kurzem Zögern sagte ich: »Ich würde Sie niemals für verrückt halten. Aber ich kann verstehen, dass das Haus und die Farm in ihrem gegenwärtigen Zustand Ihnen trübselige Stimmung bereiten.«
»Trübselige Stimmung«, wiederholte sie, während sie immer noch an ihren Ärmeln herumknibbelte. »Glauben Sie, mehr ist es nicht?«
»Ich bin sogar ganz sicher. Wenn der Frühling erst mal da ist und es Roderick besser geht und das Landgut wieder in Gang kommt, werden Sie sich gleich ganz anders fühlen. Ganz bestimmt.«
»Glauben Sie denn wirklich, es ist der Mühe wert, dass wir hier auf Hundreds weitermachen?«
Ihre Frage entsetzte mich. »Aber natürlich! Sie denn nicht?«
Sie antwortete nicht; gleich darauf wurde die Tür zum kleinen Salon geöffnet, ihre Mutter trat ein, und die Gelegenheit für weitere Gespräche war vorüber. Mrs. Ayres hustete beim Eintreten, und Caroline und ich halfen ihr in ihren Sessel. Sie nahm meinen Arm und sagte: »Vielen
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