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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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schöner Abend. Mir hat es viel Spaß gemacht, als wir miteinander getanzt haben.«
    Sie hob den Blick und schien noch etwas sagen zu wollen. Doch in diesem Moment wurde es auf der Treppe richtig hell, und sie sagte schnell: »Da kommt Betty runter. Ich muss gehen.« Sie beugte sich vor und küsste mich auf die Wange, zuerst ziemlich steif, doch als ihr Mundwinkel meinen berührte, legte sie eine Hand an mein Gesicht und zog es ungeschickt näher. Eine Sekunde lang trafen sich unsere Lippen, sie schloss die Augen, und ich spürte, wie ein Zittern über ihr Gesicht ging. Dann zog sie sich zurück.
    Sie trat ins Haus wie durch einen Riss in der Nacht, den sie gleich darauf wieder hinter sich zuzog. Ich hörte, wie sich ihr Schlüssel im Schloss drehte, und dann das Klappern ihrer Absätze, die sich auf der Steintreppe immer weiter entfernten. Und die Tatsache, dass sie nun weg war, führte dazu, dass ich sie plötzlich begehrte, viel stärker und deutlicher als eben noch in ihrer Nähe. Ich trat zur Tür und stand frustriert davor. Ich wünschte, sie würde zurückkommen. Doch sie kam nicht. Das stille Haus war mir verschlossen; im Dickicht des Gartens herrschte Grabesruhe. Ich wartete eine Minute, dann noch eine; und schließlich suchte ich mir durch die beinahe undurchdringliche Dunkelheit den Weg zurück zu meinem Auto.
     
     
     
    1)
    Landschaftsarchitektonisches Gestaltungsmittel der Gartenkunst, das eine Parkmauer oder einen Zaun ersetzt; meist ein trockener, deutlich unter dem Geländeniveau liegender tiefer Graben mit steilen Böschungen (A. d. Ü.)

9
     
     
     
     
     
     
    D anach sah ich sie über eine Woche nicht; ich hatte zu viel zu tun. Und um ehrlich zu sein, war ich dankbar für den Aufschub, denn er gab mir die Möglichkeit, meine Gefühle zu ordnen: Ich konnte mich von meinem peinlichen Schnitzer erholen und mir einreden, dass schließlich nicht allzu viel zwischen uns vorgefallen war. Die ganze Sache ließ sich auf den Alkohol, die Dunkelheit und die schwindelerregenden Nachwirkungen des Tanzes zurückführen. Am Montag traf ich Graham und gab mir alle Mühe, Caroline ausdrücklich zu erwähnen. Ich erzählte ihm, dass sie auf dem Rückweg eingedöst sei und »wie ein Kind« geschlafen habe, bis wir das Tor von Hundreds erreicht hatten; dann wechselte ich das Thema. Wie schon erwähnt, neige ich normalerweise nicht dazu, die Unwahrheit zu erzählen, denn ich habe bei meinen Patienten schon zu oft gesehen, welche Verwicklungen Lügen nach sich ziehen können. Doch in diesem Fall hielt ich es für das Beste, allen Spekulationen über Caroline und mich ein- für allemal ein Ende zu setzen, sowohl Caroline zuliebe als auch um meiner selbst willen. Fast hoffte ich, Seeley noch einmal über den Weg zu laufen. Ich hatte vor, ihn ganz unumwunden zu bitten, er solle doch sein Möglichstes tun, um die von ihm erwähnten Gerüchte – dass ich an einer oder beiden der Ayres-Frauen ein romantisches Interesse hegte – im Keim zu ersticken. Doch dann fragte ich mich plötzlich, ob es überhaupt solche Gerüchte gegeben hatte. Konnte es sich nicht einfach um einen dummen Streich handeln, den Seeley mir in einer beschwipsten Laune hatte spielen wollen? Ich kam zu dem Schluss, dass das sehr gut möglich war, und als sich unsere Wege schließlich kreuzten, erwähnte ich den Ball mit keinem Wort – und er ebenso wenig.
    Während meine Woche mit viel Arbeit verstrich, musste ich trotzdem oft an Caroline denken. Das Wetter wurde wieder wärmer und regnerisch, doch da ich wusste, dass Regen sie kaum von ihren Spaziergängen abbringen konnte, hielt ich bei meinen Fahrten durch den Park nach ihr Ausschau. Auch auf den Straßen und Feldwegen rund um Lidcote hielt ich die Augen offen und war regelrecht enttäuscht, dass ich sie nicht sah. Doch wenn sich die Gelegenheit bot, auf Hundreds Hall vorbeizufahren, ergriff ich sie nicht. Zu meiner eigenen Überraschung wurde mir klar, dass ich Angst hatte. Mehrmals hob ich den Telefonhörer ab und war kurz davor, sie anzurufen, jedoch legte ich den Hörer jedes Mal unverrichteter Dinge wieder auf. Bald allerdings fürchtete ich, dass ein weiteres Hinauszögern unnatürlich wirken könnte. Mir kam in den Sinn, dass ihre Mutter sich wahrscheinlich langsam wunderte, wieso ich mich so lange nicht blicken ließ. Und der Gedanke, dass ich unabsichtlich Mrs. Ayres’ Argwohn wecken könnte, brachte mich schließlich dazu, zum Herrenhaus zu fahren.
    An einem Mittwochnachmittag hatte

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