Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
Vom Netzwerk:
den Rasen auf die Westseite des Hauses, denn Barrett hatte ihr berichtet, dass möglicherweise eines der Regenrohre dort verstopft war und Wasser austrat. Als wir uns umdrehten, konnten wir auch tatsächlich einen ungleichmäßigen dunklen, relativ großen Fleck auf der Hauswand sehen, an einer Stelle, wo offenbar Wasser an einer Lötnaht im Regenrohr austrat. Der feuchte Fleck lief bis hinüber zum Dach des Saalanbaus und verschwand in der Fuge im Mauerwerk, wo der äußere, mit Bleiblech gedeckte Teil des Saales aus der flachen rückwärtigen Fassade des Hauses hervorsprang.
    »Ich wette, dieser Saal hat schon von Anfang an Probleme bereitet. Schon seit er nachträglich angebaut wurde«, meinte Caroline, legte eine Hand auf die Schulter ihrer Mutter und stellte sich auf Zehenspitzen, um besser sehen zu können. »Ich frage mich, wie weit das Regenwasser schon ins Mauerwerk gedrungen ist. Hoffentlich müssen die Steine nicht neu verfugt werden. Wir schaffen es vielleicht noch, das Regenrohr reparieren zu lassen, aber für größere Reparaturen reicht das Budget nicht.«
    Das Thema schien sie stark zu beschäftigen. Sie diskutierte mit ihrer Mutter darüber, während beide auf dem Rasen hin und her liefen, um den Schaden besser begutachten zu können. Dann stiegen wir alle auf die Terrasse, um das Ganze aus der Nähe zu betrachten. Ich war ziemlich still und konnte wenig Begeisterung für das Thema aufbringen; stattdessen fiel mein Blick immer wieder auf die Gartentür, die sich auf der anderen Seite des vorspringenden, eckigen Anbaus befand. Die Tür, wo ich mit Caroline im Dunkeln gestanden hatte; wo sie den Kopf gehoben und mich ungeschickt auf den Mund geküsst hatte. Und einen Augenblick lang überfiel mich die Erinnerung daran mit einer solchen Wucht, dass mir fast schwindelte. Mrs. Ayres rief mich zum Haus hinüber, und ich gab ein paar – vermutlich ziemlich oberflächliche – Kommentare über das Mauerwerk zum Besten. Dann ging ich weiter über die Terrasse und bog um die nächste Hausecke, bis ich die verstörende Tür nicht mehr sehen konnte.
    Ich hatte mich in Richtung Park gedreht und starrte blicklos über das Gelände, als ich merkte, dass Caroline sich ebenfalls von ihrer Mutter entfernt hatte. Vielleicht hatte der Anblick der Tür sie ebenfalls aus dem Konzept gebracht. Jedenfalls kam sie langsam zu mir herüber und schob die Hände in ihre Manteltaschen. Ohne mich anzublicken, meinte sie: »Können Sie Babbs Leute hören?«
    »Babbs Leute?«, wiederholte ich blöderweise.
    »Ja, heute ist es so klar, dass man sie gut hören kann.«
    Sie nickte in die Ferne, wo mittlerweile hohe Baugerüste errichtet worden waren, hinter denen die quadratischen Häuser dreist emporwuchsen. Ich lauschte aufmerksam in die Richtung, und durch die windstille, feuchte Luft drangen der schwache Lärm von Erschütterungen, Männerrufe und Geräusche von herunterpolternden Brettern oder Stangen herüber.
    »Klingt wie eine Schlacht, finden Sie nicht auch?«, meinte Caroline. »Vielleicht wie diese Geisterschlacht, die die Leute angeblich nachts hören können, wenn sie auf dem Edge Hill zelten.«
    Ich blickte sie an, erwiderte jedoch nichts, da ich meiner Stimme nicht recht traute. Vermutlich war mein Schweigen ebenso beredt, als wenn ich ihren Namen gemurmelt oder sie berührt hätte. Sie sah meinen Gesichtsausdruck, warf dann einen raschen Blick zu ihrer Mutter herüber, und plötzlich sprang etwas zwischen uns über, ein Funke, eine Art Einverständnis, und alles war wieder da: die Berührung ihrer Hüften auf der Tanzfläche, die intime Atmosphäre im kühlen, dunklen Auto, die Erwartung, die Enttäuschung, das Gerangel, der Kuss … Wieder schwindelte mir fast. Sie senkte den Kopf, und einen Moment lang standen wir in unsicherem Schweigen da. Dann sagte ich, sehr leise: »Ich habe viel an dich gedacht, Caroline. Ich …«
    »Herr Doktor!«, rief mich ihre Mutter wieder. Sie wollte, dass ich mir eine weitere Stelle im Mauerwerk anschaute. Ein altersschwacher Anker hatte sich gelöst, und sie befürchtete, dass die Wand, die er stützte, instabil werden könnte. Der Augenblick war dahin. Caroline hatte sich bereits umgewandt und war auf dem Weg zu ihrer Mutter. Ich folgte ihr, und wir betrachteten düster die sich hervorwölbenden Steine und Risse im Mörtel, während ich ein paar belanglose Bemerkungen über mögliche Reparaturen äußerte. Bald begann Mrs. Ayres zu frieren, hängte sich wieder bei mir ein und ließ

Weitere Kostenlose Bücher