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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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bestimmt auf Sie, Caroline.«
    »Ach, Mutter ist das egal. Sie ist bestimmt längst ins Bett gegangen und hat Betty aufgetragen zu warten. Außerdem wissen die beiden doch, dass ich mit Ihnen unterwegs bin, und Sie sind doch so eine Art Anstandswauwau. Da ist es egal, wie spät wir nach Hause kommen.«
    Ich blickte sie an. »Das ist doch nicht Ihr Ernst! Es ist schon nach zwei. Um neun Uhr muss ich wieder in der Praxis stehen.«
    »Wir könnten doch das Auto stehen lassen und ein Stück spazieren gehen.«
    »Aber Sie haben Tanzschuhe an!«
    »Ich will einfach noch nicht nach Hause, das ist alles. Könnten wir nicht irgendwohin fahren, einfach bloß anhalten und noch ein paar Zigaretten rauchen?«
    »Aber wohin denn?«
    »Irgendwohin eben, ganz egal. Sie kennen doch bestimmt eine Stelle.«
    »Seien Sie nicht albern«, sagte ich wieder.
    Doch ich sagte es nicht besonders entschieden. Denn ohne es zu wollen, stieg ein Bild vor meinen Augen auf, als habe es in meinem Unterbewusstsein bereitgelegen, um ausgelöst durch ihre Bemerkung an die Oberfläche zu dringen. Ohne es zu wollen, musste ich an die Stelle denken, zu der ich manchmal hinfuhr: den dunklen Teich mit dem binsenbestandenen Ufer. Ich stellte mir die glatte Wasserfläche vor, auf der sich die Sterne spiegelten, das silbrig bereifte Gras, das spröde unter den Füßen knackte; die Stille an jenem Ort. Die Abzweigung war nur ein, zwei Meilen entfernt.
    Vielleicht spürte sie meine veränderte Stimmung. Sie rutschte nicht mehr so unruhig hin und her, und wir verfielen in eine Art angespanntes Schweigen. Die Straße stieg an, machte dann eine Kurve und führte wieder herunter; noch eine Minute und wir näherten uns der Abzweigung zum Teich. Ich glaube, ich wusste wirklich bis zum letzten Augenblick nicht, ob ich abbiegen sollte oder nicht. Dann verlangsamte ich unvermittelt, trat die Kupplung und schaltete herunter. Caroline neben mir hielt sich mit einer Hand am Armaturenbrett fest, um sich in der Kurve abzustützen. Sie hatte sogar noch weniger damit gerechnet als ich. Während das Auto abbog, rutschten ihre Füße noch weiter nach vorn, so dass ich sie einen Moment lang direkt unter meinem Oberschenkel spürte, wie ein Paar entschlossene Wühlmäuse. Dann fuhren wir etwas ruhiger weiter, sie zog die Füße wieder ein Stück zurück und presste die Fersen in ihren Sitz, um nicht noch weiter abzurutschen.
    Hatte sie es wirklich ernst gemeint, als sie davon gesprochen hatte, einfach dazusitzen und Zigaretten zu rauchen? Hatte ich, als ich mir diesen Ort vorstellte, völlig vergessen, dass es bereits zwei Uhr früh war? Als ich den Motor ausstellte, erloschen zugleich die Scheinwerfer, und weder vom Teich, noch vom Gras oder dem Schilf am Ufer war etwas zu sehen. Wir hätten überall sein können – oder nirgends. Nur die Stille war genau wie in meiner Vorstellung: eine Stille so tief, dass sie jedes winzige Geräusch, das sie durchbrach, zu verstärken schien, so dass ich jede einzelne Atembewegung Carolines unverhältnismäßig intensiv wahrnahm. Ich hörte, wie sich ihre Kehle verengte und wieder lockerte, wenn sie schluckte, ich hörte das winzige Schnalzgeräusch, wenn sich ihre Zunge vom Gaumen löste. Bestimmt eine Minute saßen wir reglos da, ich mit den Händen am Lenkrad, sie mit ihrem Arm am Armaturenbrett, als wolle sie sich gegen weitere Erschütterungen abstützen.
    Dann wandte ich den Kopf und blickte zur ihr hinüber. Es war zu dunkel, um sie richtig zu erkennen, doch ich konnte mir ihr Gesicht mit der unglücklichen Mischung aus stark ausgeprägten Familienmerkmalen lebhaft genug vorstellen. Wieder hörte ich im Geiste Seeleys Bemerkung: Die hat was, das kann man nicht anders sagen … Ich hatte es ebenfalls gespürt, oder etwa nicht? Ich glaube, ich hatte es schon gespürt, als ich sie zum ersten Mal traf, als ich ihr zusah, wie sie mit ihren nackten braunen Zehen Gyps Brustfell kraulte; und seitdem hatte ich es bei zahllosen Gelegenheiten gespürt, wenn ich die Wölbung ihrer Hüften und ihres Busens sah, die ungezwungenen Bewegungen ihrer kräftigen, festen Glieder. Doch wieder rührte dieses Gefühl zugleich etwas anderes in mir auf, obwohl ich mich schämte, es mir selbst einzugestehen: Ich verspürte eine Art dunkles Unbehagen, ja beinahe ein Gefühl des Abscheus. Es lag nicht an unserem Altersunterschied. Ich glaube nicht, dass ich in dem Moment überhaupt darüber nachgedacht habe. Es war eher so, als ob das, was mich zu ihr hinzog, mich

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