Der Besucher - Roman
sich in den kleinen Salon zurückführen.
Wie sie mir erzählte, hatte sie in der letzten Woche ihr Zimmer kaum verlassen, um die letzten Reste ihrer Bronchitis auszukurieren. Als wir nun im Salon saßen, hielt sie die Hände vors Feuer und rieb sie aneinander, um wieder warm zu werden. Sie hatte in letzter Zeit abgenommen; die Ringe saßen ihr locker an den Fingern und verdrehten sich. Doch nachdem sie die Steine wieder nach oben gerichtet hatte, sagte sie mit klarer Stimme: »Wie wunderbar es ist, endlich wieder auf den Beinen zu sein! Ich habe mich schon wie diese Dichterin gefühlt. Du weißt doch sicher, welche ich meine, Caroline?«
Caroline war gerade dabei, sich auf das Sofa zu setzen. »Ich weiß es nicht, Mutter.«
»Doch, das weißt du. Du kennst doch alle Dichter. Ich meine diese Dichterin, die so schrecklich menschenscheu war.«
»Elizabeth Barrett?«
»Nein, die nicht.«
»Charlotte Mew?«
»Gütiger Himmel, wie viele gibt es denn eigentlich! Nein, ich meine diese Amerikanerin, die jahrelang ihr Zimmer nicht verlassen hat und nur noch in schriftlichen Mitteilungen kommuniziert hat.«
»Ach, dann meinst du wahrscheinlich Emily Dickinson!«
»Ja, genau. Emily Dickinson. Übrigens eine ziemlich anstrengende Dichterin, finde ich. So atemlos und sprunghaft! Was ist so schlecht an langen Verszeilen und einem schwungvollen Rhythmus? Als Kind hatte ich mal eine deutsche Gouvernante, Dr. Faraday, eine Miss Elsner. Sie war ganz verrückt nach Tennyson …«
Und dann fuhr sie fort, uns irgendeine Geschichte aus ihrer Kindheit zu erzählen. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich kaum zuhörte. Ich hatte mich auf den Sessel ihr gegenüber gesetzt, was bedeutete, dass Caroline auf dem Sofa zu meiner Linken saß, gerade so weit außerhalb meines Blickfelds, dass ich den Kopf drehen musste, wenn ich ihrem Blick begegnen wollte. Diese Bewegung wurde mit jedem Mal angespannter und unnatürlicher; allerdings kam es mir genauso unnatürlich vor, mich gar nicht zu ihr zu drehen. Und obwohl sich unsere Blicke gelegentlich trafen, wirkte ihre Miene auf mich meist zurückhaltend, ja ausdruckslos. »Waren Sie in dieser Woche schon bei den neuen Häusern?«, fragte ich sie, als Betty uns den Tee serviert hatte, und: »Haben Sie vor, heute zur Farm zu gehen?«, – in der Hoffnung, dass ich ihr vielleicht anbieten könnte, sie mitzunehmen, und auf diese Weise ein wenig Zeit mit ihr allein verbringen könnte. Doch sie antwortete mit entschlossener Stimme: Nein, sie habe noch verschiedene Dinge zu erledigen und werde daher den Rest des Nachmittags zu Hause verbringen … Was hätte ich in Anwesenheit ihrer Mutter noch mehr tun können? Einmal, als Mrs. Ayres sich abwandte, blickte ich sie freimütiger an, zuckte kurz die Achseln und hob die Augenbrauen, doch sie blickte rasch weg, als sei sie verlegen. Gleich darauf sah ich, wie sie beiläufig eine karierte Decke von der Sofalehne zog, und fühlte mich plötzlich schmerzhaft daran erinnert, wie sie in meinem Auto die Wolldecke fest um sich geschlungen und sich abgewendet hatte. Ich hörte noch ihre Stimme. Tut mir leid. Tut mir leid, ich kann nicht . Und plötzlich schien mir die ganze Angelegenheit hoffnungslos zu sein.
Schließlich bemerkte Mrs. Ayres, dass ich nicht ganz bei der Sache war.
»Sie sind so still heute, Herr Doktor. Sie haben doch hoffentlich nichts auf dem Herzen?«
»Ich bin heute bloß sehr früh aufgestanden«, erwiderte ich entschuldigend. »Und leider muss ich auch gleich noch einige Patienten besuchen. Ich freue mich aber, dass es Ihnen so viel besser geht. Doch nun …«, hier blickte ich ostentativ auf meine Uhr, … nun muss ich mich leider wirklich auf den Weg machen.«
»Ach, das ist aber schade!«
Ich stand auf. Mrs. Ayres läutete wieder nach Betty und schickte sie meine Sachen holen. Während ich meinen Mantel überzog, erhob sich Caroline vom Sofa, und ich dachte freudig erregt, dass sie vorhätte, mich zur Tür zu begleiten. Doch sie ging nur bis zum Tisch und stellte die Teetassen auf das Tablett. Während ich noch ein paar Abschiedsworte mit ihrer Mutter wechselte, trat sie jedoch näher zu mir. Mit geneigtem Kopf betrachtete sie aufmerksam das Vorderteil meines Mantels. »Sie zeigen erste Auflösungserscheinungen, Herr Doktor!«, sagte sie leise und griff nach meinem obersten Knopf, der nur noch an ein paar braunen Baumwollfäden hing. Völlig überrascht von ihrer Geste zuckte ich ein Stück zurück, dabei lösten sich die
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