Der Besucher - Roman
ich zwischen mehreren Hausbesuchen ein bisschen freie Zeit, und so machte ich mich auf den Weg. Niemand war im Haus, bis auf Betty, die am Küchentisch saß und vergnügt bei laufendem Radio Messing putzte. Sie erzählte, dass Caroline und ihre Mutter irgendwo im Garten unterwegs seien, und nach kurzer Suche fand ich die beiden auch, wie sie langsamen Schrittes über den Rasen gingen. Sie begutachteten die Auswirkungen der jüngsten heftigen Regenfälle auf die ohnehin schon ungepflegten Blumenbeete. Mrs. Ayres war dick eingepackt gegen Nässe und Kälte, es schien ihr jedoch deutlich besser zu gehen als bei meinem letzten Besuch. Sie hatte mich noch vor ihrer Tochter entdeckt und kam lächelnd über den Rasen, um mich zu begrüßen. Caroline bückte sich und hob einen nassen Zweig vom Boden auf, als sei sie verlegen. Doch dann richtete sie sich wieder auf und folgte ihrer Mutter. Ohne zu erröten, begegnete sie meinem Blick und sagte: »Und – haben Sie sich von der vielen Tanzerei wieder erholt? Mir haben vielleicht die Füße wehgetan in der letzten Woche! Du hättest mal sehen sollen, wie wir über das Parkett gefegt sind, Mutter! Wir waren ziemlich beeindruckend, nicht wahr, Herr Doktor!«
Sie war wieder ganz die Tochter aus gutem Hause, ihr Tonfall klang betont ungezwungen und aalglatt. »Ja, das waren wir«, erwiderte ich und musste mich abwenden. Ich konnte ihr nicht ins Gesicht sehen, denn in diesem Moment spürte ich, wie etwas in mir zersprang, und erst da wurde mir klar, was ich für sie empfand. Alle vernünftigen Gedanken, die ich mir während der letzten zehn Tage zurechtgelegt hatte, waren Heuchelei, wie mir plötzlich bewusst wurde, eine Art Fassade, die ich in meiner Gefühlsverwirrung errichtet hatte. Caroline hatte diese Gefühlsverwirrung ausgelöst; sie hatte allerlei unklare Emotionen zwischen uns aufgewühlt, und der Gedanke, dass sie diese Emotionen plötzlich einfach wieder in sich verschließen könnte, genau wie sie ihre Trauer um Gyp versiegelt hatte, war schwer zu ertragen.
Mrs. Ayres war weitergegangen und untersuchte ein anderes Blumenbeet. Ich folgte ihr und bot ihr meinen Arm. Caroline ging an ihre andere Seite, und gemeinsam wanderten wir langsam von einem Rasenabschnitt zum nächsten. Immer wieder blieb Caroline stehen, entfernte die am schwersten beschädigten Pflanzen oder klopfte die weniger betroffenen wieder in der Erde fest. Ich weiß nicht, ob sie mir überhaupt einen Blick schenkte. Wenn ich zu ihr hinüberschaute, blickte sie geradeaus oder zu Boden, so dass ich vor allem ihr flaches Profil sah, und da Mrs. Ayres zwischen uns ging, war Carolines Gesicht oft ganz oder teilweise von dem ihrer Mutter verdeckt. Wenn ich mich recht entsinne, sprachen sie vor allem über den Garten. Durch die Regenfälle war ein Zaun umgestürzt, und sie diskutierten darüber, ob man ihn erneuern sollte. Auch ein dekorativer Pflanzkrug war zerbrochen, und der große Rosmarinbusch, der darin gestanden hatte, musste umgetopft werden. Der Pflanzkrug war alt, die Urgroßeltern des Colonels hatten ihn von einer Italienreise mitgebracht. Sie fragten mich, ob man ihn wohl reparieren könne. Wir standen vor dem traurigen Krug, aus dem mehrere große Zacken gebrochen waren, so dass man das darunterliegende Wurzelwerk sehen konnte. Caroline hockte sich davor und stupste die Wurzeln an. »Man könnte fast meinen, dass die Pflanze zucken müsste!«, sagte sie, während sie den Rosmarin betrachtete. Mrs. Ayres trat ebenfalls näher und strich mit ihren behandschuhten Händen über die silbriggrünen Zweige, als würde sie Locken kämmen. Dann hielt sie sich die Finger unter die Nase und atmete den Duft ein.
»Wunderbar!«, sagte sie und streckte mir die Hand hin, damit ich den Kräuterduft ebenfalls riechen sollte, und ich beugte mich gehorsam hinab und lächelte – obwohl ich bloß den leicht bitteren Geruch ihrer feuchten Waschleder-Handschuhe wahrnahm. Ich war mit meinen Gedanken bei Caroline. Ich sah, wie sie wieder gegen das Wurzelwerk stupste, dann stand sie auf und wischte sich die Hände ab. Ich sah, wie sie den Gürtel ihres Mantels richtete; ich sah, wie sie locker mit einem Fuß gegen den anderen schlug, um einen Erdklumpen von ihrem Absatz zu klopfen. All das nahm ich wahr, ohne sie ein einziges Mal richtig anzusehen – so als hätte sie mir ein neues, verborgenes Auge verliehen und wollte es nun mit ihrer Gleichgültigkeit quälen wie eine ausgefallene Wimper.
Mrs. Ayres führte uns über
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