Der Besucher - Roman
geschlafen?«
»Soweit ich weiß … Aber wahrscheinlich hätte ich niemals zu den Neubauten gehen dürfen. Ich hätte sie nicht allein lassen sollen …«
Ich ließ die Hände sinken. »Sei nicht albern. Wenn irgendjemand sich einen Vorwurf machen muss, dann ich. Du hast mir schon seit Wochen gesagt, dass sie sich anders verhält als früher. Ich wünschte bei Gott, ich hätte dem mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Es tut mir so leid, Caroline. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ihr Gemüt so aus dem Gleichgewicht geraten ist. Nicht auszudenken, wenn die Schnitte ein wenig tiefer gewesen wären … wenn sie womöglich eine Arterie getroffen hätte.«
Sie sah erschrocken aus. Ich griff nach ihrer Hand. »Verzeih mir. Es muss furchtbar für dich sein, deine Mutter in einem solchen Zustand zu sehen. Diese … diese Vorstellungen, die sie da hat …« Ich sprach es nur ungern aus. »Diese Phantasien über deine Schwester … dass deine Schwester sie besucht hat … Wusstest du darüber Bescheid?«
Sie starrte wieder ins Feuer. »Nein. Aber nun wird mir einiges klar. Sie hat so viel Zeit allein verbracht. Ich dachte, es läge daran, dass sie müde und erschöpft war. Stattdessen muss sie oben in ihrem Zimmer diesen Gedanken nachgehangen haben … dass … dass Susan … Ach, es ist einfach grotesk! Es … es ist widerlich!« Ihre blassen Wangen hatten sich gerötet. »Und es ist meine Schuld, egal, was du sagst. Ich habe geahnt, dass etwas in der Art passieren würde. Es war bloß eine Frage der Zeit.«
»Na ja«, erwiderte ich niedergeschlagen. »Dann hätte ich es auch ahnen müssen. Und ich hätte sie besser im Auge behalten sollen.«
»Das hätte auch nichts geändert«, sagte sie. »Erinnere dich doch nur daran, wie genau wir Roderick beobachtet haben! Nein, ich hätte sie von hier wegbringen müssen – sofort. Weg von Hundreds.«
Es war etwas Merkwürdiges an der Art und Weise, wie sie das sagte, und während sie sprach, schaute sie mich an und senkte dann beinahe verstohlen den Blick. »Wie meinst du das?«, fragte ich. »Caroline?«
»Na, ist das nicht offensichtlich?«, erwiderte sie. »Etwas ist in diesem Haus. Etwas, was immer schon hier war und nun aufgewacht ist. Oder etwas, was hierhergekommen ist, um uns zu bestrafen und zu ärgern. Du hast doch gesehen, in welchem Zustand meine Mutter war, als du gekommen bist. Du hast gehört, was ihr passiert ist. Du hast doch gehört, was Mrs. Bazeley und Betty erzählt haben.«
Ich starrte sie ungläubig an. Dann sagte ich: »Du willst mir doch nicht weismachen … Du kannst doch nicht im Ernst glauben … Caroline, hör mir zu.« Ich ergriff ihre andere Hand und hielt sie fest. »Du, deine Mutter, Mrs. Bazeley; ihr seid alle am Ende eurer Kräfte! Dieses Haus, ja, das hat euch diese Gedanken in den Kopf gesetzt. Aber das ist doch kaum verwunderlich. In der letzten Zeit hat ein schreckliches Ereignis zum nächsten geführt: zuerst Gyp, dann Roderick, und nun das. Das wirst du doch wohl einsehen? Du bist nicht wie deine Mutter, Caroline. Du bist stärker als sie. Na, ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie schon vor Monaten dasaß und weinte, genau da, wo du jetzt sitzt! Sie muss sich mit den Erinnerungen an deine Schwester gequält haben, seit diese verdammten Kritzeleien zum ersten Mal aufgetaucht sind. Es ist ihr nicht gut gegangen, sie hat schlecht geschlafen; sie ist nicht mehr die Jüngste. Und dann noch diese leidige Angelegenheit mit dem Sprachrohr …«
»Und die verschlossene Tür? Und die Schritte?«
»Die Tür war vermutlich noch nicht einmal verschlossen. Schließlich stand sie offen, als ihr nach oben kamt, du und Mrs. Bazeley, nicht wahr? Und die Pfeife steckte an ihrem Platz in der Muschel? Und was die Schritte angeht … Ich vermute, dass sie bloß irgendein Geräusch gehört hat. Schließlich hat sie auch mal gedacht, sie habe Gyp herumtappen gehört, erinnerst du dich noch? Irgendein Geräusch, mehr brauchte es in ihrem Zustand nicht, dass ihr logisches Denken ihr den Dienst versagte.«
Sie schüttelte frustriert den Kopf. »Du hast auch auf alles eine Antwort.«
»Eine vernünftige Antwort, ja. Du willst doch wohl nicht im Ernst andeuten, dass deine Schwester …«
»Nein«, sagte sie mit fester Stimme. »Nein, das will ich nicht.«
»Was dann? Dass irgendein Geist deine Mutter heimsucht? Vielleicht der gleiche Geist, der die Flecken in Rodericks Zimmer hinterlassen hat?«
»Also – irgendetwas muss sie ja wohl hinterlassen haben,
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