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Der bewaffnete Freund

Der bewaffnete Freund

Titel: Der bewaffnete Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raul Zelik
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ist subversiver als die Internationale auf Spanisch zu singen. Sprechen als Schöpfungsakt: Alles muss neu erfunden werden, denn die Dinge, die über den Zusammenhang Natur-Familie-Kirche hinausgehen, haben keine Bezeichnungen, es gibt keine abgenutzten Formulierungen. Stellen Lyriker in anderen Sprachen damals fest, dass den Wörtern selbst Plattitüden, Klischees, Herrschaftsverhältnisse innewohnen, so ist für die Freunde der illegalen Literaturzeitung jeder Satz ein Abenteuer – offenes Land.
    Sarrionandia geht in den Untergrund, wird verhaftet und schreibt. Ruper Ordorika und Bernardo Atxaga sprechen sich gegen Anschläge aus, gehen nicht in den Untergrund, werden nicht verhaftet und schreiben. Sarrionandia, von dem niemand weiß, wo er heute lebt, und der die Sprache, die er mit niemandem oder fast niemandem im Alltag teilt, mit jedem Buch neu erfindet, hat sich nie von der Organisation, mit deren Hilfe er befreit wurde, distanziert. Ordorika und Atxaga, die heute als wichtigste Künstler der nicht mehr verbotenen, nur noch marginalen Sprache gelten, bekennen sich bis heute zu ihrem untergetauchten Freund.
    Zubieta schließlich, der Sarrionandia aus dem Gefängnis befreite, hat die ihm prophezeite Theaterkarriere nie gemacht. Stattdessen ist er zum Sprecher der Organisation aufgestiegen, zu ihrem Kopf, ihrem Symbol. Sein Gesicht befindet sich nur deshalb nicht über dem Tresen, auf den Fotos der Inhaftierten, weil er Glück gehabt hat, unverschämt viel Glück. Es grenzt an ein Wunder, heißt es, dass er zwanzig Jahre nach der Flucht noch immer auf freiem Fuß ist.
     
    Nervöser Albtraum. Alkohol vor dem Schlafengehen bekommt mir nicht. Als ich aufwache, habe ich Durst, Kopfschmerzen, Harndrang. Ich rücke von Rabbee ab, der neben mir schläft, nur ab und an einen leisen Seufzer von sich gibt, schleppe mich aufs Klo und denke über den Traum nach: eine Festnahme. Seit Jon, Montserrats jüngerer Bruder, vor zwei Jahren von der Polizei verschleppt wurde, verfolgt mich dieses Bild. Maskierte Zivilisten stoppten ihn damals nachts auf einer Landstraße, zerrten ihn aus dem Wagen und brachten ihn, ohne Angabe von Gründen, auf eine Polizeiwache. Fünf Tage lang kann die Guardia Civil in Spanien Terrorverdächtige festhalten, ohne dass Angehörige informiert werden müssen. Als Incomunicado -Haft wird diese Praxis bezeichnet, Kommunikationslosigkeits-Haft.
    Sie haben Jon verprügelt. Seinen Kopf in eine Plastiktüte gesteckt und zugebunden. Ihm gedroht, ihn zu vergewaltigen. Sich zu mehreren auf seinen Oberkörper gesetzt, bis er in Panik geriet. Seinen Kopf in eine Badewanne getaucht. Ihn immer wieder geweckt, wenn er einschlief. Schlafentzug ist eine der effektivsten Foltermethoden. Nach drei Tagen beginnt das Immunsystem zu kollabieren, man gerät in einen Zustand geistiger Verwirrung. Nach Jons Freilassung – das Verfahren wurde nach einem Jahr eingestellt –, konnte er drei Monate lang nicht allein im Zimmer schlafen. Der Chefredakteur einer linksliberalen Tageszeitung, der 2003 ebenfalls verhaftet und gefoltert wurde, erklärte nach seiner Freilassung, neunzig Prozent aller Terrorismus-Verurteilungen in Spanien beruhten auf durch Folter erzwungenen Aussagen. Vor Gericht können die Opfer dabei nicht auf Wiedergutmachung hoffen. Die Justiz folgt der Argumentation, dass die Organisation ihre Mitglieder anweist, sich als Opfer von Misshandlungen zu inszenieren. Dementsprechend sind alle, die eine Anzeige wegen Folterungen stellen, Mitglieder der Organisation. Eigentümliche Beweisführung.
    Das neue Europa, hat Haberkamm in einem Aufsatz geschrieben, zeichne sich – in Abgrenzung zu den USA und ihrem Ausnahmeregime seit dem 11. September 2001 – durch die Bedeutung aus, die es den Menschenrechten beimisst.
    Halte ich Europa deswegen für eine überdimensionierte Shopping Mall, weil ich Jon und seine Geschichte kenne?
     
    Es ist heiß, kein Luftzug über den Dächern von X. Ich gehe in die Küche und trinke, bis mir schlecht ist. Ich weiß, das Flüssigkeitsaufnahme das Einzige ist, was einen vor Kopfschmerzen am nächsten Morgen bewahrt, und doch muss ich mich jedes Mal zum Trinken zwingen.
     
    Neun Uhr morgens. Unten vor dem Haus ziehen Einkindfamilien vorbei, auf dem Weg vom Markt nach Hause. An den Kinderwägen hängen Einkaufstüten.
    Während Rabbee sich rasiert, schaue ich Montserrats Plattensammlung durch. Wieder stoße ich auf Ordorikas Lied von den herumirrenden Freunden, das ich gestern im Radio

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