Der bewaffnete Freund
ein einziges Schiff hat angelegt. Die christdemokratische Regionalregierung will den kantabrischen Atlantikhafen hundert Kilometer weiter westlich verdrängen. Jetzt gibt es zwei große Industriehäfen an der Nordküste: nationale Identität in Zeiten der Standortkonkurrenz.
»Da gehe ich nicht rein«, sagt Rabbee.
»So kalt ist es nicht«, sage ich, während ich ins Wasser stapfe.
»Ich meine nicht wegen der Temperatur. Das Wasser ist kontaminiert.«
Der Fluss von X galt früher als eines der verseuchtesten Gewässer Europas, aber es heißt, seine Wasserqualität habe sich in den vergangenen Jahren erheblich verbessert.
»In der Zeitung steht, dass man da sogar wieder Fische rausholen kann.«
Rabbee grinst. »Was für Fische mögen das sein …?«
Auf dem Wasser treiben wie am Mittelmeer Tüten und Papiertaschentücher. Doch diesmal lasse ich mich nicht abschrecken. Die Wellen, die vom Atlantik hereingleiten, sind manchmal fast zwei Meter hoch. Ich stürze mich ihnen entgegen. Ich mag die Kraft des Wassers, mir gefällt es, die Wellen im richtigen Augenblick abzupassen, den Körper auf den Scheitelpunkt der sich brechenden Welle zu werfen und sich von ihr nach vorne schieben zu lassen. Schnell schießt man auf die Küste zu, bis die einstürzenden Wassermassen einen hinunterreißen. Das Salzwasser beißt in den Schleimhäuten, wenn man herumgeschleudert wird, es spült die Nebenhöhlen durch. Benommen steht man wieder auf und spürt einen Augenblick des Glücks: Man ist nur noch Körper, erschöpfte Existenz, ohne Kontrolle über sich selbst. Und dann geht man erneut hinaus, um auf die nächste große Welle zu warten.
Ich rufe Rabbee zu, er solle es auch mal probieren.
Aber er bleibt im Sand sitzen und liest in einem Buch.
Ich weiß nicht, wie oft ich mich so immer wieder in die Brandung stürze, mich tragen lasse, aufstehe und mich dem Meer von neuem entgegenstemme.
Die Angst schließlich kommt wie die Nebelbänke. In Schüben.
Das Problem ist, dass ich Zubieta nicht nur ein paar Mal vor zwanzig Jahren getroffen habe. Ich habe ihm geholfen, lange nachdem er untergetaucht war: Seine Kreditkarte lief einige Jahre auf meinen Namen. Er hatte mir eine Nachricht zukommen lassen, mich gefragt, ob ich ihm einen Gefallen tun könne, seine Familie werde überwacht, auf mich käme die spanische Polizei nicht so leicht. Ich überlegte eine Weile, nicht sehr lang. Zubieta hatte auch nie gezögert, wenn ihn jemand um Hilfe bat, und außerdem war er damals in Lateinamerika, weit weg vom Geschehen. Ich beschloss, einem Flüchtigen zu helfen, der Polizei, einer folternden Polizei, zu entgehen – unabhängig davon, was ich von seiner Organisation im Einzelnen halte. Ich richtete also ein Konto ein, überließ Zubieta die Karte und zahlte einmal im Jahr einen größeren Betrag ein, den mir seine Schwester in bar aushändigte. Zweimal habe ich die Karte verlängert – erst als einer der Briefe, die ich sicherheitshalber immer vorausschickte, wieder zurückkam, stellte ich die Sendungen ein. Über sechs Jahre war der Freund in Besitz meiner Kreditkarte. Eine Nebensächlichkeit, ein einfacher Freundschaftsdienst. Doch in diesem Zusammenhang gibt es keine einfachen Freundschaftsdienste. Vor Gericht würde meine Hilfe als Unterstützung einer terroristischer Vereinigung gewertet und mit Gefängnis nicht unter fünf Jahren bestraft werden.
Ich habe weniger Angst vor dem Prozess.
Meine Furcht gilt den Prozeduren nach der Verhaftung.
Am schlimmsten, heißt es, ist die Badewanne. Die Polizisten drücken einen unter Wasser, bis man zu ersticken glaubt. Die Panik macht einen wahnsinnig.
Rabbee dreht sich auf seinem Badetuch um und klopft sich den Sand von den Schenkeln. Für einen Augenblick erinnert er an die Statue eines klassischen Athleten. Dann streckt er den Kopf nach oben und sein Oberkörper wirkt wieder etwas schmächtiger, weniger sportlich.
Ich steige aus dem Wasser und schreite auf ihn zu.
Beim Sprechen legt sich manchmal die Angst.
Sofort beginne ich abzuwägen, wie viel ich Rabbee erzählen kann. Noch ein Aspekt von Unsagbarkeit: Es gibt in der Region um X nicht nur zahllose Dinge, die man nicht ausdrücken kann, weil alle Formulierungen einem feststehenden Bedeutungssystem zugeordnet sind, sondern andere zahllose Dinge, die verschwiegen werden müssen, weil sie die Grenzen der Legalität überschreiten. So ist man beim Reden ständig damit beschäftigt, etwas anzudeuten, den Standpunkt der
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