Der Bierzauberer
Mediävistik lehrt und daher in alten Sprachen und Schriften sehr bewandert
ist. Er schlug es hinten auf und überflog einige der letzten Sätze:
›Mein
unstetes Leben neigt sich dem Ende zu, ich glaube nicht, dass ich das Ende des Jahres
A. D. 1326 noch erleben werde. Ich habe während der letzten Jahre einige Stationen
aus meinem Leben aufgeschrieben. Ich weiß nicht, ob mein Leben es wert war, aufgezeichnet
zu werden, aber ich war gottesfürchtig und habe doch viel gesehen und erlebt.‹
Mein Sprachforscher
war begeistert.
Wir versuchten,
vorne weiterzulesen:
›Ich schreibe
dies alles auf diesen wunderbaren Stoff, den Du, lieber Leser, in Deinen Händen
hältst. Es handelt sich dabei um eine Neuigkeit, die ich als junger Mann in der
neuen Mühle zu Ravensburg bekommen habe. Es sieht aus wie Papyrus, ist jedoch feiner
und haltbarer. Die Feder lässt sich besser führen als auf unserem alten Pergament
und man kann es besser zu Büchern binden. Du, wer auch immer Du bist, hältst eines
der ersten Bücher in der Hand, das jemals in unseren Landen aus diesem neuen Stoff
hergestellt wurde.
Ich habe
es mehr als 50 Jahre lang mit mir getragen. Nun ist die Zeit gekommen, es zu beschreiben
mit dem, was ich zu berichten habe. Über mein Leben, über die hohe Kunst des Bierbrauens,
doch auch über die Bestie in Menschengestalt, die mich mein halbes Leben lang gejagt
hat.‹
Mit einer
Mischung aus Ehrfurcht und Schrecken legten wir das Buch weg und nahmen die losen
Seiten zur Hand, die gleich zu Beginn aus dem Buch gefallen waren. Das erste Blatt
war ebenfalls von Hand beschrieben.
›Dieses
Buch ist im Moment in meinem Besitz. Wie es dahin kam, ist eine lange Geschichte,
die ich vielleicht niemals erzählen werde. Sollten Sie, der Sie dies lesen, nicht
zu denen gehören, für die dieses Buch bestimmt ist, legen Sie es bitte an seinen
Platz zurück. Andernach, im Jahre des Herrn 1878, Theobald Simon aus Bitburg.‹
Donnerwetter,
das wurde ja immer besser! Theobald Simon war der wichtigste Brauer aus der Dynastie
der Bitburger Brauerei, einer der größten und erfolgreichsten Brauereien des Landes.
Ich beschloss, mir seine Geschichte noch etwas aufzuheben, und sah das nächste Blatt
an.
Schon
die Unterschrift darauf reichte, um mich endgültig davon zu überzeugen, hier in
ein ganz besonderes, fast schon mystisches Geheimnis hineingeraten zu sein.
Das Blatt
endete mit den Worten:
›Und hiermit
lasse ich dieses wunderbare Buch dort, wo es am besten von jemand aufzufinden ist,
der es zu nutzen weiß. Gabriel Sedlmayr, Anno Domini 1819.‹
Gabriel
Sedlmayr, einer der Ahnherren der Spaten-Brauerei in München, gleichfalls eine der
ganz großen Gestalten in der deutschen Biergeschichte, hatte dieses Buch ebenfalls
besessen.
Aber was
sollte dieser mysteriöse Hinweis, er lasse das Buch dort, wo jemand es finden soll,
der es zu nutzen weiß? Welches Geheimnis verbarg sich in diesem Buch? Wir beschlossen,
uns ans Lesen beziehungsweise Dechiffrieren dieses dicken Manuskripts zu machen.
In den
folgenden Wochen verbrachte ich jede freie Minute und darüber hinaus jede Minute,
die ich mir bei der Arbeit ›frei machen‹ konnte, mit diesem alten Buch. Und während
ich nach und nach entdeckte, welcher Schatz sich darin verbarg, versuchte ich, neben
dem Lesen eine lesbarere Version mitzuschreiben. Dies war jedoch nicht so leicht,
wie ich es mir vorstellte.
Daher
nahm ich das Buch am Ende meiner Ausbildungszeit mit nach Hause. Immer legte ich
die Teile davon, die für mich unleserlich waren – und das waren nicht wenige, meinem
etymologisch bewanderten Freund vor.
Langsam
kam ich hinter das Geheimnis des Buches. Doch dazu wollen wir gemeinsam zurück zum
Anfang gehen.
Wir werden
eine Zeitreise ins 13. und frühe 14. Jahrhundert unternehmen. Geführt von einem
einfachen Bauernsohn aus Franken, der in seinem langen Leben in verschiedenen Klöstern
lebte und die Kunst des Bierbrauens lernte, in der Stadt die Anfänge des professionellen,
handwerklichen Brauens mitmachte und der dafür mehr als einmal im Gefängnis saß.
Der im Krieg mitkämpfte, große Teile der damals bekannten Welt bereiste und doch
meist einen tödlichen, gefährlichen Feind im Nacken sitzen hatte. Dem großes Elend
und große Erfolge gleichermaßen widerfuhren und dem doch am Ende beinahe nichts
blieb.
Ich lade
Sie herzlich ein, mitzukommen!
DES BUCHES ERSTER TEIL
Brauen ist halt Weibersach’
1
Der Hieb auf den Rücken tat
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