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Der blaue Express

Der blaue Express

Titel: Der blaue Express Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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herzhafte Begrüßung hatten eine unerwartete Wirkung auf sie.
    «Also, Ruth, warum zuckst du denn so zusammen?»
    «Ich hatte nur nicht erwartet, dich hier zu sehen, Dad. Du hast dich ja gestern von mir verabschiedet und gesagt, du hättest heute Morgen eine Konferenz.»
    «Habe ich auch», sagte Van Aldin, «aber du bist mir wichtiger als alle blöden Konferenzen zusammen. Ich wollte dich nur unbedingt noch einmal treffen, weil ich dich ja eine ganze Weile nicht mehr sehen werde.»
    «Das ist sehr lieb von dir, Dad. Ich wünschte, du könntest mitkommen.»
    «Was würdest du dazu sagen, wenn ich mitkäme?»
    Die Bemerkung war nur scherzhaft gemeint. Er war überrascht, eine jähe Röte auf Ruths Wangen zu sehen. Einen Moment lang glaubte er fast, ein Erschrecken in ihren Augen zu bemerken. Sie lachte unsicher und nervös.
    «Einen Moment habe ich wirklich gedacht, du meinst das ernst», sagte sie.
    «Hättest du dich darüber gefreut?»
    «Selbstverständlich.» Sie sprach mit übertriebenem Nachdruck.
    «Na», sagte Van Aldin, «dann ist es ja gut.»
    «Es ist aber doch gar nicht so lang, Dad», fuhr Ruth fort, «nächsten Monat kommst du ja nach.»
    «Ah!», sagte Van Aldin unbewegt, «manchmal denke ich mir, ich sollte einfach zu einem der großen Männer in der Harley Street gehen und mir von ihm erzählen lassen, dass ich sofort einen Klimawechsel und Sonne brauche.»
    «Sei nicht so faul», rief Ruth, «nächsten Monat ist es da drüben viel schöner als diesen Monat. Du hast doch alle möglichen Dinge am Hals, die du jetzt nicht einfach liegen lassen kannst.»
    «Tja, so ist es wohl», sagte Van Aldin mit einem Seufzer. «Aber du solltest jetzt in deinen Zug steigen, Ruth. Wo ist dein Sitzplatz?»
    Ruth Kettering sah sich um. In der Tür eines der Pullman-Wagen stand eine große, dünne Frau in Schwarz – Ruth Ketterings Zofe. Sie trat beiseite, als ihre Herrin zu ihr kam.
    «Ich habe die kleine Reisetasche unter Ihren Sitz gestellt, Madam, falls Sie sie brauchen. Soll ich die Decken nehmen, oder möchten Sie eine haben?»
    «Nein, nein, ich brauche jetzt keine. Suchen Sie jetzt lieber Ihren eigenen Platz, Mason.»
    «Ja, Madam.»
    Die Zofe verschwand.
    Van Aldin begleitete Ruth in den Pullman-Wagen. Sie fand ihren Platz, und Van Aldin legte einige Zeitungen und Magazine auf das Tischchen vor ihr. Der Platz gegenüber war bereits besetzt, und der Amerikaner streifte die dort sitzende Dame mit einem Blick. Er behielt einen flüchtigen Eindruck von attraktiven grauen Augen und einem hübschen Reisekostüm. Er gönnte sich noch ein kleines Gespräch mit Ruth – das Geplauder von Leuten, die andere zum Zug bringen.
    Sehr bald, als die Pfeifen schrillten, sah er auf seine Uhr.
    «Ich sollte wohl besser aussteigen. Auf Wiedersehen, meine Liebe. Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich um alles.»
    «Ach, Vater!»
    Er wandte sich rasch um. Etwas lag in Ruths Stimme, das so wenig zu ihrer gewohnten Art passte, dass er erschrak. Es klang beinahe wie ein Ruf der Verzweiflung. Sie hatte eine impulsive Bewegung zu ihm hin gemacht, aber gleich darauf hatte sie sich wieder in der Gewalt.
    «Bis nächsten Monat», sagte er behutsam.
    Zwei Minuten später fuhr der Zug ab.
    Ruth saß ganz still da, biss auf die Unterlippe und versuchte mit aller Kraft, die ungewohnten Tränen zu unterdrücken. Plötzlich empfand sie eine schreckliche Trostlosigkeit. Ein wildes Verlangen packte sie, aus dem Zug zu springen und heimzukehren, ehe es zu spät war. Sie, sonst so ruhig und selbstsicher, kam sich zum ersten Mal im Leben wie ein vom Wind verwehtes Blatt vor. Wenn ihr Vater das wüsste – was würde er wohl sagen?
    Wahnsinn! Ja, genau das, Wahnsinn! Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie von Gefühlen fortgespült, so weit fortgetragen, dass sie etwas tun wollte, wovon sie selbst wusste, dass es unglaublich töricht und gefährlich war. Als Van Aldins Tochter war sie sich ihrer Torheit vollkommen bewusst und nüchtern genug, das eigene Tun zu verurteilen. Aber auch in einem anderen Sinne war sie seine Tochter. Sie hatte die gleiche eiserne Entschiedenheit, das zu erreichen, was sie haben wollte, und, einmal entschlossen, ließ sie sich nicht vom Ziel abbringen. Von der Wiege an war sie dickköpfig gewesen; und ihre Lebensumstände hatten diese Willenskraft weiterentwickelt. Sie trieb sie nun unweigerlich voran. Die Würfel waren gefallen. Jetzt musste sie sich durchbeißen.
    Sie schaute auf, und ihr Blick begegnete dem der Frau

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