Der blaue Express
in Katherines Zimmer. Ihr Gesicht wirkte heller und weniger verdrossen.
«Ich freue mich, dass der alte Derek kommt», sagte sie, «der wird dir gefallen.»
«Wer ist Derek?»
«Der Sohn von Lord Leconbury, hat eine reiche Amerikanerin geheiratet. Die Frauen fliegen nur so auf ihn.»
«Warum?»
«Ach, das Übliche – sieht sehr gut aus und taugt überhaupt nichts. Der verdreht allen den Kopf.»
«Dir auch?»
«Manchmal ja», sagte Lenox, «und manchmal glaube ich, ich würde am liebsten einen braven Pastor heiraten und auf dem Land wohnen und Gemüse in Frühbeeten ziehen.» Sie machte eine kurze Pause und setzte dann hinzu: «Ein irischer Landpfarrer wäre am besten, und dann könnte ich jagen.»
Nach einer oder zwei Minuten kam sie auf ihr voriges Thema zurück. «Irgendwas ist komisch an Derek. Die ganze Familie ist ein bisschen übergeschnappt – besessene Spieler, verstehst du? In den alten Zeiten haben sie ihre Frauen und ihre Latifundien verspielt und einfach zum Spaß die tollsten Sachen gemacht. Derek hätte einen prima Straßenräuber abgegeben – artig und munter, einfach die richtige Haltung.» Sie ging zur Tür. «Na ja, komm einfach runter, wenn dir danach ist.»
Als sie allein war, hing Katherine ihren Gedanken nach. Im Moment fühlte sie sich durch und durch unwohl und in dieser Umgebung völlig deplaciert. Der Schock der Entdeckung im Zug und die Art, wie ihre neuen Freunde den Bericht aufgenommen hatten, verstörten sie in ihrer Empfindsamkeit. Sie dachte lange und ernst über die Ermordete nach. Ruth hatte ihr Leid getan, aber sie konnte wirklich nicht behaupten, dass sie sie gemocht hätte. Nur zu gut hatte sie den rücksichtslosen Egoismus erahnt, der ihren Charakter prägte, und er stieß sie ab.
Sie war erheitert und ein bisschen verletzt gewesen, als die andere sie kühl verabschiedete, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatte. Katherine war ganz sicher, dass die Frau zu irgendeinem Entschluss gelangt war, aber nun fragte sie sich, was das für ein Entschluss gewesen sein mochte. Was auch immer – der Tod hatte eingegriffen und alle Beschlüsse zunichte gemacht. Seltsam, dass es so gekommen war, dass ein brutales Verbrechen die unheilvolle Reise beendet hatte. Aber plötzlich fiel Katherine eine kleine Tatsache ein, die sie vielleicht der Polizei hätte mitteilen sollen – eine Tatsache, an die sie im Moment der Befragung nicht gedacht hatte. Ob es denn wirklich wichtig war? Sie war ziemlich sicher gewesen, dass sie einen Mann in dieses Abteil hatte hineingehen sehen, aber ihr war nun klar, dass sie sich leicht geirrt haben könnte. Es konnte das benachbarte Abteil gewesen sein, und ganz bestimmt war der fragliche kein Bahnräuber. Sie erinnerte sich ganz deutlich an ihn, da sie ihn ja vorher schon zweimal gesehen hatte – einmal im Savoy und einmal bei Cook’s. Nein, zweifellos hatte sie sich geirrt. Er war nicht in das Abteil der Toten gegangen, und vielleicht war es besser, dass sie der Polizei nichts gesagt hatte. Sie hätte damit unabsehbaren Schaden anrichten können.
Sie ging hinunter und gesellte sich zu den anderen auf der Terrasse. Durch die Mimosenzweige blickte sie auf das Blau des Mittelmeers hinaus, und während sie mit halbem Ohr Lady Tamplins Geplapper lauschte, war sie doch froh, hergekommen zu sein. Dies hier war besser als St. Mary Mead.
Am Abend zog sie das Kleid in Rose und Mauve namens soupir d’automne an, lächelte ihrem Spiegelbild zu und ging dann nach unten, zum ersten Mal in ihrem Leben empfand sie ein leichtes Gefühl von Schüchternheit.
Die meisten Gäste waren bereits eingetroffen, und da Lärm für Lady Tamplins Partys essenziell war, herrschte bereits ein ohrenbetäubendes Stimmengewirr. Chubby eilte auf Katherine zu, nötigte sie zu einem Cocktail und nahm sie unter seine Fittiche.
«Da bist du ja endlich, Derek», rief Lady Tamplin, als die Tür sich öffnete, um den letzten Gast einzulassen. «Endlich bekommen wir etwas zu essen. Ich sterbe schon vor Hunger.»
Katherine sah zur anderen Seite des Raums. Sie schrak zusammen. Das also war Derek, und sie war sich bewusst, dass sie nicht überrascht war. Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass sie dem Mann, den sie infolge einer seltsamen Verkettung von Zufällen dreimal gesehen hatte, irgendwann begegnen würde. Auch er schien sie wieder zu erkennen. Er hielt plötzlich im Sprechen inne, und es schien ihn Mühe zu kosten, sein Gespräch mit Lady Tamplin wieder aufzunehmen. Als sie zum Dinner
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