Der blaue Express
ziemlich wertvolle Juwelen enthielt, davongemacht haben. Höchstwahrscheinlich hat er den Zug in Lyon verlassen. Wir haben schon an den Bahnhof dort telegrafiert, wegen der genauen Beschreibung aller, die beim Verlassen des Zugs gesehen wurden.»
«Er könnte auch bis Nizza mitgefahren sein», warf Poirot ein.
«Könnte er», stimmte der Kommissar zu, «aber das wäre sehr riskant gewesen.»
Poirot ließ eine oder zwei Minuten verstreichen, ehe er sagte:
«Im zweiten Fall meinen Sie, der Mann sei ein gewöhnlicher Bahnräuber gewesen?»
Der Kommissar zuckte mit den Schultern.
«Das kommt darauf an. Wir müssen die Zofe finden. Möglicherweise hat sie den roten Lederkoffer bei sich. In diesem Fall könnte der Mann, über den Madame mit Mademoiselle gesprochen hat, in die Sache verwickelt sein, und dann wäre es wohl ein Verbrechen aus Leidenschaft. Ich persönlich halte die Lösung mit dem Bahnräuber für plausibler. Diese Banditen werden in letzter Zeit immer dreister.»
Poirot blickte plötzlich Katherine an.
«Und Sie, Mademoiselle», sagte er, «haben Sie in der Nacht nichts gehört und gesehen?»
«Nichts», sagte Katherine.
Poirot wandte sich an den Kommissar.
«Ich glaube, wir brauchen Mademoiselle nicht länger aufzuhalten», sagte er.
Der Kommissar nickte.
«Sie hinterlassen uns bitte Ihre Adresse?», sagte er.
Katherine nannte ihm Lady Tamplins Villa. Poirot machte eine leichte Verbeugung.
«Gestatten Sie, dass ich Sie wieder sehe, Mademoiselle?», sagte er. «Oder haben Sie so viele Freunde, dass all Ihre Zeit schon vergeben ist?»
«Im Gegenteil», sagte Katherine. «Ich werde genug Muße haben und mich sehr freuen, Sie wieder zu sehen.»
«Ausgezeichnet», sagte Poirot und nickte ihr freundlich zu. «Dies wird ein roman policier à nous. Wir werden in dieser Affäre gemeinsam ermitteln.»
Zwölftes Kapitel
In der Villa Marguerite
« D u bist also richtig mitten darin gewesen!», sagte Lady Tamplin neidisch. «Wie aufregend, meine Liebe!» Sie öffnete ihre veilchenblauen Augen weit und stieß einen leichten Seufzer aus.
«Ein echter Mord», sagte Mr Evans triumphierend.
«An so etwas hat Chubby natürlich nicht gedacht», fuhr Lady Tamplin fort, «er konnte einfach nicht verstehen, weshalb die Polizei dich mit Beschlag belegt hat. Liebe Güte, was für eine Gelegenheit! Weißt du, ich glaube – ja, ich glaube wirklich, man müsste irgendwas daraus machen können.»
Ein berechnender Blick störte die scheinbare Naivität der blauen Augen.
Katherine fühlte sich ein wenig unbehaglich. Sie waren eben mit dem Essen fertig, und sie betrachtete der Reihe nach die drei Leute, die um den Tisch saßen. Lady Tamplin, voll neuer Pläne, Mr Evans in strahlend naiver Begeisterung, und Lenox mit einem seltsam schiefen Lächeln auf dem dunklen Gesicht.
«So ein Glück», murmelte Chubby, «wenn ich doch nur mit dir gehen – und alles – eh, alles hätte sehen können.» Er klang sehnsüchtig und kindlich.
Katherine sagte nichts. Die Polizei hatte ihr keinerlei Geheimhaltung auferlegt, und es war natürlich unmöglich, die nackten Tatsachen zu unterdrücken oder vor ihrer Gastgeberin zu verschweigen. Das tun zu können wäre ihr aber lieber gewesen.
«Ja», sagte Lady Tamplin, die plötzlich aus ihrer Träumerei auffuhr, «ich finde wirklich, dass man etwas daraus machen könnte. Ein kleiner Artikel, wisst ihr, geschickt geschrieben. Bericht einer Augenzeugin, mit weiblichem touch: ‹Mein Geplauder mit der Toten, wie hätte ich denn auch ahnen können…›, etwas in der Art, versteht ihr?»
«Quatsch!», sagte Lenox.
«Ihr habt ja keine Ahnung», sagte Lady Tamplin mit sanfter, versonnener Stimme, «was Zeitungen für so eine Kleinigkeit zahlen! Natürlich müsste es von jemandem in wirklich unangreifbarer gesellschaftlicher Stellung geschrieben werden. Du wirst es wohl nicht selbst schreiben wollen, nehme ich an, Katherine, aber gib mir doch einfach die schieren Fakten, dann erledige ich das Ganze für dich. Mr de Haviland ist einer meiner besonderen Freunde. Wir kommen sehr gut miteinander aus. Ein ganz bezaubernder Mann – überhaupt nicht wie ein Reporter. Was hältst du denn von dieser Idee, Katherine?»
«Ich würde lieber nichts Derartiges tun», sagte Katherine direkt.
Lady Tamplin war durch diese vorbehaltlose Absage ein wenig aus dem Konzept geraten. Sie seufzte und machte sich daran, weitere Einzelheiten zu erhellen.
«Also sehr interessant sah die Frau aus, sagst du?
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