Der blaue Express
plötzlich kreidebleich. Er hielt sich an einer Stuhllehne fest, um nicht zu taumeln, und winkte den Jungen hinaus.
«Was gibt es, Sir?»
Knighton hatte sich besorgt erhoben.
«Ruth!», sagte Van Aldin heiser.
«Mrs Kettering?»
«Tot!»
«Ein Zugunglück?»
Van Aldin schüttelte den Kopf.
«Nein. Dem hier zufolge ist sie auch noch beraubt worden. Die benutzen das Wort nicht, Knighton, aber mein armes Mädchen ist ermordet worden.»
«Um Gottes willen, Sir!»
Van Aldin klopfte mit dem Zeigefinger auf das Telegramm.
«Es ist von der Polizei in Nizza. Ich muss mit dem ersten erreichbaren Zug hin.»
Knighton war effizient wie immer. Er sah auf die Uhr.
«Um fünf Uhr ab Victoria Station, Sir.»
«Gut. Sie kommen mit, Knighton. Instruieren Sie meinen Diener, Archer, und packen auch Sie. Kümmern Sie sich hier um alles. Ich will in die Curzon Street.»
Das Telefon schrillte, und der Sekretär hob den Hörer ab.
«Ja, bitte?»
Dann zu Van Aldin:
«Mr Goby, Sir.»
«Goby? Den kann ich jetzt nicht empfangen. Nein – warten Sie, wir haben noch genug Zeit. Die sollen ihn raufschicken.»
Van Aldin war ein starker Mann. Inzwischen hatte er seine eiserne Ruhe wiedergewonnen. Als er Mr Goby begrüßte, hätten nur wenige etwas in seiner Stimme bemerkt.
«Ich bin in Eile, Goby. Haben Sie mir etwas Wichtiges zu erzählen?»
Mr Goby hustete.
«Mr Ketterings Unternehmungen, Sir. Sie wollten über alles unterrichtet sein.»
«Ja – und?»
«Mr Kettering, Sir, ist gestern Vormittag an die Riviera abgereist.»
«Was?»
Etwas in seiner Stimme musste Mr Goby erschreckt haben. Der ehrbare Gentleman brach mit seiner Gewohnheit, niemals den Gesprächspartner anzusehen, und warf einen flüchtigen Seitenblick auf den Millionär.
«Welchen Zug hat er genommen?», fragte Van Aldin.
«Den Blauen Express, Sir.»
Mr Goby hustete erneut und sagte zur Uhr auf dem Kaminsims:
«Mademoiselle Mirelle, die Tänzerin vom Parthenon, hat den gleichen Zug genommen.»
Vierzehntes Kapitel
Ada Masons Geschichte
« I ch kann Ihnen gar nicht oft genug unser Entsetzen, unsere Betroffenheit und unser tiefes Mitgefühl wiederholen, Monsieur.»
So wandte sich Monsieur Carrège, der Untersuchungsrichter, an Van Aldin. Monsieur Caux, der Kommissar, grunzte mitfühlend. Van Aldin wischte Entsetzen, Betroffenheit und Mitgefühl mit einer brüsken Geste beiseite. Sie befanden sich im Büro des Untersuchungsrichters in Nizza. Außer Monsieur Carrège, dem Kommissar und Van Aldin war noch eine Person anwesend, die nun das Wort ergriff.
«Monsieur Van Aldin», sagte der Mann, «wünscht, dass gehandelt wird – dass sofort gehandelt wird.»
«Ah!», rief der Kommissar. «Ich habe Sie noch gar nicht vorgestellt. Monsieur Van Aldin, das ist Monsieur Hercule Poirot; Sie haben zweifellos von ihm gehört. Zwar hat er sich vor einigen Jahren aus seinem Beruf zurückgezogen, aber noch immer kennt jeder seinen Namen als den eines der größten lebenden Detektive.»
«Freut mich, Sie kennen zu lernen, Monsieur Poirot», sagte Van Aldin; mechanisch griff er auf diese Formel zurück, die er sich vor etlichen Jahren abgewöhnt hatte. «Sie haben sich aus Ihrem Beruf zurückgezogen?»
«So ist es, Monsieur. Ich genieße jetzt die Welt.»
Der kleine Mann machte eine großsprecherische Geste.
«Monsieur Poirot fuhr zufällig mit dem Blauen Express», erklärte der Kommissar, «und er war so freundlich, uns mit seiner großen Erfahrung zu helfen.»
Der Millionär musterte Poirot aufmerksam. Dann sagte er zur Überraschung der anderen:
«Ich bin ein sehr reicher Mann, Monsieur Poirot. Gewöhnlich sagt man, reiche Leute leben in dem Glauben, alles und alle kaufen zu können. Das stimmt nicht. Ich bin auf meinem Gebiet ein großer Mann, und ein großer Mann darf einen anderen großen Mann um einen Gefallen bitten.»
Poirot nickte schnell, billigend.
«Sehr gut gesagt, Monsieur Van Aldin. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.»
«Danke», sagte Van Aldin. «Ich kann nur sagen, wenden Sie sich zu jeder beliebigen Zeit an mich, und Sie werden mich nicht undankbar finden. Und jetzt, meine Herren, an die Arbeit.»
«Ich schlage vor», sagte Monsieur Carrège, «die Zofe zu verhören, Ada Mason. Sie haben sie mitgebracht, hörte ich.»
«Ja», sagte Van Aldin. «Wir haben sie unterwegs in Paris aufgegabelt. Der Tod meiner armen Tochter hat sie sehr erschüttert, aber sie erzählt ihre Geschichte durchaus zusammenhängend.»
«Dann wollen wir sie
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