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Der blaue Tod

Der blaue Tod

Titel: Der blaue Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Meyn
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Niemand wagte, den Anfang zu machen.
    «Es muss jedenfalls etwas geschehen», meinte einer schließlich. «Seit Ihrer Entlassung regiert in Berlin die Unberechenbarkeit. So forsch sein Auftreten, so markig seine Worte auch sein mögen: Wilhelm ist zu jung und selbstgewiss. Er kann das Staatsschiff nicht ohne Mannschaft lenken – und sein Stab besteht aus Dilettanten, der neue Reichskanzler inklusive!»
    Ein anderer nickte. «Engstirnige Ministerialbeamte und ein diplomatisches Korps voller aristokratischer Nichtskönner.»
    «So wird das Reich jedenfalls keine Rolle auf der weltpolitischen Bühne spielen», erklärte ein Dritter.
    «Wo bleibt die erhoffte Kolonialpolitik? Wo bleibt die Flotte, die dem Handel auf den Weltmeeren entsprechenden Schutz bietet?»
    Der Gastgeber nickte zufrieden. «Das Gaukelspiel des Hohenzollern muss ein Ende finden. Seine hochfahrende Unbeherrschtheit wird den Staat in den Ruin führen. Am liebsten wäre es mir, wir könnten einen seiner Günstlinge, einen dieser süßlichen Herren, gleich mit zur Strecke bringen. – Herr Senator, was meinen Sie?»
    Der Angesprochene nestelte nervös am Revers seines Gehrocks. «Verdammtes Gottesgnadentum. An die Stelle preußischer Tugenden sind heimliche Schwärmereien getreten.»
    «Der Monarch ist ein Träumer», fügte ein anderer hinzu. «Während er in seinen Phantasien schwelgt, formieren sich immer mehr seiner geliebten Untertanen. Aber nicht in die von ihm gewünschte Richtung.» Er blickte den Gastgeber um Bestätigung heischend an. «Die Sozialdemokraten haben Zulauf wie nie zuvor. Und das Krebsgeschwür gedeiht allerbestens, solange sich in Berlin nichts ändert.»
    Der Gastgeber lächelte gequält. «Solange ich das Sagen hatte, bin ich eisern gegen Pfaffen und Sozialdemokraten vorgegangen. Nun wagen sich die Ratten aus ihren Löchern.»
    «Ein Haufen raub- und mordsüchtiger Gesellen, die nur darauf warten, den Bürgern den Hals umzudrehen», meldete sich ein Herr mit Knebelbart und stattlichem Embonpoint. «Herrschaften, wie Sie wissen, vertrete ich ein ganzes Konsortium. Natürlich weiß niemand, was wir im Schilde führen. Aber man wird es gutheißen, wenn das Ergebnis sichtbar wird. – Herr Reeder, Sie dürften meiner Meinung sein.» Er blickte einen anderen an. «Die Sozialdemokraten schüren Unruhe in der ganzen Arbeiterschaft und gefährden den wirtschaftlichen Aufschwung.»
    «Richtig, richtig! Nach Aufhebung der Sozialistengesetze vor zwei Jahren nimmt das stetig zu», erwiderte der. «Erst die Maifeiertage, dann der Streik der Tabakarbeiter. Seit dem Gewerkschaftskartell vom letzten Jahr ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Arbeitsverweigerungen auch auf die Hafenbetriebe ausdehnen. Wir sitzen förmlich auf einem Pulverfass!»
    «Ich glaube, wir sind uns einig», meinte der Gastgeber und erhob sein Glas, während ein Lächeln über seine Lippen huschte. «Wir sollten nicht nur etwas gegen Berlin, sondern zugleich gegen die Sozialdemokraten unternehmen. Ein befreiender Doppelschlag, sozusagen. Meine Herren, ich habe da eine Idee   …»

In der Kanzlei
    13.   August
     
    D ie Hitze war unerträglich. Sören Bischop stand am geöffneten Fenster seines Arbeitszimmers und fächerte sich mit der Zeitung ein wenig Luft zu. Fast zwei Wochen ging das jetzt schon, und ein Ende war nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil, es wurde immer noch heißer. Als vor zwei Tagen leichter Westwind aufgekommen war, hatte Sören schon auf einen Wetterumschwung gehofft, ein paar Schauer oder zumindest eine Brise frischer Meeresluft. Aber die Hoffnung hatte getrogen. Das Einzige, was der Wind vor sich hertrieb, war der trockene Staub und der Schmutz auf den Straßen sowie der brackige und moderige Geruch aus den Fleeten, die so wenig Wasser führten, dass der innerstädtische Schiffsverkehr bis auf die wenigen Stunden des Hochwassers zum Erliegen gekommen war. An vielen Stellen glichen die städtischen Wasserstraßen einer morastigen Kloake.
    Sören blickte auf seinen Terminkalender. Soweit dies möglich war, hatte er alle aushäusigen Angelegenheiten auf den Vormittag und die Abendstunden verlegen können. Die nächste Gerichtsverhandlung stand erst nächste Woche an. Bis dahin hatte sich das Wetter hoffentlich normalisiert, denn die Strafjustizordnung zwang ihn zum Tragen von Robe und Amtstracht, worauf Sören bei diesen Temperaturen gerne verzichten konnte, auch wenn die Säle des neuen Strafjustizgebäudes als gut belüftet galten.
    Was

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