Der blaue Tod
den Prozess und das zu erwartende Urteil anging,brauchte sich Sören allerdings nichts vorzumachen. Er hatte sein Bestes getan, aber eine, wenn auch kurze Arreststrafe seiner Mandantin schien diesmal unabwendbar, schließlich war sie wegen ähnlicher Vergehen bereits zweimal ermahnt worden. Eine Geldstrafe konnte Minna Storck ohnehin nicht bezahlen, und vielleicht war das in diesem Fall auch gut so, denn ohne einen empfindlichen Denkzettel konnte man davon ausgehen, dass sie sich in absehbarer Zeit des gleichen Vergehens erneut schuldig machen würde. Drei Wochen Arrest – mit mehr war nicht zu rechnen – mochten da schon Wunder wirken. Kinder hatte sie keine; von daher musste kein Unbeteiligter unter dem Urteil leiden. Die Opfer ihres Handelns waren Gott sei Dank glimpflich davongekommen, wenn man bedenkt, dass Senator Lehmann oder ein Familienangehöriger an der Fischvergiftung genauso gut hätte sterben können. Natürlich war es ein starkes Stück, alten Fisch mittels Ochsenblut in den Kiemen zu frischer Ware zu machen, andererseits wäre doch eigentlich zu erwarten gewesen, dass in der Küche eines Senators spätestens die Köchin die verfaulte Ware hätte erkennen müssen. Das Mädchen, das den Fisch entgegen der Anweisung nicht am Hafen, sondern auf einem Gassenmarkt im Gängeviertel gekauft hatte, um so etwas vom Einkaufsgeld abzuzweigen, hatte seine Anstellung natürlich umgehend verloren.
Die Sünden der kleinen Leute, die Gaunereien der Besitzlosen. Sören machte einen tiefen Atemzug. Es war das eigentlich Tragische an diesen Fällen, dass die Vergehen meist durch die eigene Not begründet waren. Spätestens wenn er die Wohnstätten solcher Klienten näher inspizierte, überkam ihn häufig genug das kalte Grausen. Es war wirklich unvorstellbar, in welcher Armutein Großteil der Bevölkerung dieser doch so wohlhabenden Stadt lebte.
Den Besitzlosen regelmäßig als Pflichtverteidiger bei Strafsachen zur Seite zu stehen war das Mindeste, was er tun konnte, auch wenn es dem Grundübel, der sozialen Frage, kaum Abhilfe schuf. Ein bisschen tat er es auch, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, schließlich hatte er als Advokat inzwischen ein stattliches Einkommen. Sören hatte es nie bereut, die Medizin endgültig an den Nagel gehängt zu haben, auch wenn ihm seine fachlichen Kenntnisse bei manchen Fällen ausgesprochen nützlich waren. Seit fünf Jahren arbeitete er nun schon mit Albrecht Johns zusammen, und vor zwei Jahren, nachdem sich dessen ehemaliger Seniorpartner, Matthias Daniel, endgültig zur Ruhe gesetzt hatte, hatte Johns ihn zum Partner gemacht. Johns & Bischop – Rechtsanwälte. Jeden Morgen blickte Sören mit ein wenig Stolz auf das polierte Messingschild am Eingang des alten Hauses an der Schauenburger Straße.
Die Zusammenarbeit hatte sich schnell als fruchtbar erwiesen, und auch wenn jeder von ihnen seinen eigenen, klar abgegrenzten Tätigkeitsbereich hatte, waren sie inzwischen so etwas wie ein eingespieltes Team. Albrecht Johns hatte Sören schon aufgrund seines Alters einiges an Berufserfahrung voraus, und Sören bewunderte die eloquenten Plädoyers seines Kompagnons, obwohl er sich insgeheim über Johns mokierte, da dieser auch im privaten Gespräch immer redete, als stünde er im Gerichtssaal. Jedes Wort war wohl überlegt, jeder Satz klang genau einstudiert, und es war für Sören undenkbar, dass sein Sozius vor anderen Menschen je die Beherrschung verlieren könnte. Johns hingegen blickte verwundert auf Sörens soziales Engagement. Es wäre ihm selbst nie inden Sinn gekommen, seine beruflichen Qualifikationen jemandem ohne angemessenes Honorar zur Verfügung zu stellen. Den wenigen Aufforderungen, als Pflichtverteidiger zu agieren, war Johns zwar ohne Murren nachgekommen, aber Sören hatte ihm diese Aufgabe schnell abgenommen, als er merkte, dass Johns an den Fällen wenig interessiert war und entsprechend nachlässig recherchierte.
Inzwischen war es jedoch so weit, dass Sören einen Großteil seiner Arbeitszeit mit Pflichtmandaten verbrachte. Seit einigen Jahren gelangten deutlich mehr Straftaten innerhalb der unteren Bevölkerungsschichten vor Gericht als zuvor. Vorrangig waren es Vergehen kleiner Ganoven und Gelegenheitsgauner, Trickbetrügereien und Prostitution, die zur Anklage kamen. Alles Vergehen, die niemandem Reichtum bescherten, sondern dem Angeklagten meist nur das Überleben sicherten. Sören überschlug im Geiste die Verhandlungen der letzten Monate und
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