Der blaue Vogel kehrt zurück
stehen. Ich weiß nicht, was zuerst da war: die Erinnerung an den Schmerz oder der Schmerz selbst. Zum zweiten Mal schon greife ich mir an den Brustkorb, als würde das helfen.
Das ist dein Viertel. Hier hast du deine Jugend verbracht, Jonah. Bleib ganz ruhig, Jonah. Alles liegt bereits hinter dir, nichts wird sich mehr ändern.
Ich gehe ein paar Schritte, finde meinen Rhythmus wieder und setze den Weg fort. Im Licht einer Straßenlaterne schaue ich auf Noors Zettel: »Kurz vor der Rustenburgerstraat, linke Seite, 127 und 129, Firma Pekelhaaring.«
Das verstehe ich nicht. Essen bei einer Firma? Darüber denke ich nach, während ich ein paar Meter weitergehe. Fünf oder sechs bloß, dann bleibe ich stehen und blicke in ein Schaufenster. Ich versuche, mich zu erinnern, welche Läden zu meiner Zeit dort gewesen sind. Die Firma De Lange! Ein Gefühl, als fiele mir plötzlich wieder ein, wo ich einen Schatz vergraben habe. Und mir fällt noch mehr ein: Der Laden von De Lange lag ein Stückweiter weg, von unserer Wohnung aus nach links, stadtauswärts. Hinter De Lange kam die Buchhandlung Vos.
Ich weiß, wo ich bin.
Ungefähr hier war ich, als Mevrouw Van Groen mir entgegenkam und sagte, ich solle schnell nach Hause gehen, Mutter würde sich bestimmt Sorgen machen. Das war im Winter. Ich war zum ersten Mal allein im Dunkeln auf der Straße und muss irgendwie geahnt haben, dass mich zu Hause nichts Schönes erwarten würde.
Pronk, unser ehemaliger Vermieter aus der Weesperstraat, lieferte uns die Nachricht ab wie eine angefahrene Katze. Er wollte seinen warmen Mantel nicht ablegen. Er schien nicht mehr berühren zu wollen als den Boden, über den er sich zögerlich schob, blieb mitten im Zimmer stehen und sprach die Worte leise eins nach dem anderen aus.
Für mich starb mein Vater in jenem Moment, doch wann genau sein Tod in Wirklichkeit eingetreten war, konnte Pronk uns nicht sagen. Mitzuteilen, dass Meijer tot war, fiel ihm schon schwer genug, uns zu sagen, was er noch wusste, war ein Ding der Unmöglichkeit. Er stammelte und geriet ins Stocken, Mama hingegen geriet immer mehr außer sich und packte ihn schließlich zornig bei den Schultern, um die Wahrheit aus ihm herauszuschütteln. Als ihr aufging, was sich abgespielt hatte – nicht nur am vergangenen Abend in dem von giftigem Kohlenmonoxid erfüllten Schlafzimmer in unserer ehemaligen Wohnung, sondern auch in all den Monaten davor –, dankte sie Pronk eisig fürs Überbringen der Nachricht und komplimentierte ihn zur Tür hinaus. Dann machte sie das Radio an und setzte sich in den großen Lehnstuhl, Papas Sessel. Dass sie nicht allein war, drang wohl erst zu ihr durch, als ich ihr die Schulter streichelte. Sie drückte mich an sich. Ich roch ihren süßen Duft. Ich hörte, wiesie sich, ihren Mann und mich aus tiefstem Herzen beklagte. Sie weinte, weil sein Leben zu Ende gegangen war, aber auch, weil sie sich unser Leben ohne ihn nicht vorstellen konnte.
Die ersten Stunden nach Pronks Besuch standen unter dem Eindruck des Unglücks, erst danach, als ihr kein weiteres Unheil mehr einfiel, brach die Zeit der Wut an. Obwohl sie keine Ahnung hatte, wer die Frau war, die neben ihrem Mann im Bett gelegen hatte, sagte sie, dass sie hoffe, die Schlampe möge in der Hölle schmoren.
Mein Vater wurde am nächsten Tag begraben. Meine Mutter wollte nicht, dass auch nur ein Kleidungsstück eingerissen wurde, aber immerhin war sie bereit, ein paar Eier extra zu kochen – weil ich die so gern mochte.
Die Menschen, die uns in dieser Woche besuchten, waren traurig, da bin ich mir ganz sicher, doch im Beisein meiner Mutter wagten sie nicht, sich ihrem Kummer hinzugeben. Einer nach dem anderen machten sie sich schon nach wenigen Minuten mit einem flüchtigen Händedruck und einer gemurmelten Beileidsbekundung wieder aus dem Staub.
Der Ewige tröste Sie.
Der Ewige tröste Sie.
Ein Wadenkrampf, Seitenstechen. Übelkeit, Schwindel. Alles bloß Zipperlein, wenn ich nicht jeden Tag und immer stärker darunter zu leiden hätte. Ich erschrecke bei dem Gedanken, dass ich vielleicht an der Firma Pekelhaaring vorbeigegangen bin und zurückkehren, eine noch größere Anstrengung unternehmen muss, wo ich doch jetzt schon so müde bin. Ich sehe auf und stelle fest, dass ich vor einem Restaurant mit orientalischen Spezialitäten stehe. Und ich entdecke eine Plakette, eine Gedenktafel für Kohn und Cahn. Zuerst lese ich die Wörter, dann taucht wie aus dem Nichts der fröhliche
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