Der blaue Vogel kehrt zurück
in ihrer Nähe blieb und jedemWort lauschen konnte, verstand ich kaum etwas. Zusammen brachten sie ein ernstes Brummen hervor, das man hörte, sobald nicht mehr gesungen oder gebetet wurde – wie ein Motor, der die ganze Zeit im Leerlauf dreht.
Ich denke an Papa, an den Metzger, an die Männer und die Jungen, daran, wie sie klangen und wie sie rochen, in diesem Raum, zu jener Zeit – unbekümmert.
Sch’ma Israel, A-donaj E-lohejnu, A-donaj Echad.
Und nach all den Jahren sitzen sie wieder da, oder vielleicht immer noch, und die Geschichte hat nicht nur unsere Schul, sondern auch ihre Besucher in Ruhe gelassen.
Noch vor dem Ende des Gottesdienstes stehe ich auf. Auf dem Weg zum Ausgang durchzuckt mich ein stechender Schmerz im Rücken. Ich weiß, dass es nur meine alten Knochen sind, sehe mich aber trotzdem suchend um nach der Hand meines Vaters.
15
Irgendwie ist mir die Zeitspanne zwischen meinem Besuch der Synagoge und dem Moment, in dem ich Noors lackierte Nägel über die Tasten fliegen sehe, abhandengekommen.
»Alles in Ordnung, Meneer Jacobson?«
Das werde ich inzwischen immer häufiger gefragt, und allmählich glaube ich, dass dies nicht aus reiner Höflichkeit geschieht. Ich weiß ja: Wenn ich müde bin, werde ich so blass.
Vicky fragte mich kürzlich, ob ich Angst vor dem Sterben hätte. Nein, sagte ich, wunderte mich aber doch darüber, dass diese Möglichkeit bestand und dass ein anderer es nötig fand, mich darauf aufmerksam zu machen.
Schon mein ganzes Leben lang halte ich den Tod für nichts anderes als eine Veränderung – nein, das stimmt nicht, so etwas muss einem erst vermittelt werden, und in meinem Fall hat das Kosmann getan, der beim Boxunterricht von Marc Aurel erzählte.
Vicky fragte: »Ist es Ihnen denn egal?«
Ich antwortete, das sei nicht gleichgültig oder verächtlich gemeint, im Gegenteil, doch würde ich den Tod als Teil des Lebens akzeptieren.
Sie wollte wissen, ob ich der Meinung sei, dass ein hohes Alter den Abschied erschwere; ich müsse mittlerweile doch ziemlich am Leben hängen? »Sie haben viel erlebt, alter Mann!«
Ich antwortete ihr, wie lange man lebe, sei egal, denn man könne immer nur den gegenwärtigen Zeitpunkt verlieren, das sei für alle Menschen gleich.
Danach erzählte ich ihr, wie ich Kosmann und Marc Aurels Buch kennengelernt hatte, einfach nur, weil ich Lust dazu hatte und sie mir immer höflich zuhörte.
Ich musste mich in der Turnhalle melden. Schmale, hohe Fenster, Linoleumfußboden, zwei Boxsäcke, die in einem Schrank verstaut waren, wenn unser Club die Halle nicht benutzte.
Neun oder zehn wartende Jungen. Ein paar Klappergestelle und einige kleine Dickerchen, doch alle hatten wir die gleiche weit geschnittene kurze Hose an und die gleichen roten Flecken an den Beinen – von der Kälte. Oder aus Nervosität. Unaufgefordert stellten wir uns ordentlich in einer Reihe auf und warteten, dass der Trainer etwas sagte.
Wir wollten alle boxen lernen, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass die jetzt schon ängstlich dreinblickenden Kleinen in unserer Gruppe sich im Ring länger als eine Minute auf den Beinen halten würden. Ich hatte gehofft, mich mit größeren und stärkeren Jungen messen zu müssen. Der Trainer entsprach als Einziger meinen Erwartungen, doch der war alt, mindestens fünfunddreißig, ein Mann, gegen den ich nur verlieren konnte.
»Mein Name ist Kosmann, aber das wisst ihr ja schon.«
Alle nickten und ein paar Jungen murmelten: »Ja, Meneer Kosmann.«
»Ich habe vor, so wenig wie möglich zu tun«, fuhr unser Trainer fort. »Nicht mal meine Worte habe ich mir selbst ausgedacht.« Er nahm ein grünes Buch mit Goldprägung von einem Tisch an der Wand und näherte sich damit dem Jungen ganz außen in der Reihe. »Das hier sind die weisen Worte eines Kaisers,der glaubte, dass man mit der Haltung eines Boxers und nicht mit der eines Gladiators durchs Leben gehen muss. Gladiatoren haben ein Schwert, das sie in die Hand nehmen und wieder weglegen. Boxern stehen ihre Hände immer zur Verfügung, sie brauchen sie nur zur Faust zu ballen.«
Das tat ich ganz automatisch und musterte meine Fäuste, als wären sie mir ganz neu.
»Ich bringe euch bei, wie ihr euch bewegen müsst«, sagte Kosmann, »und dieser Mann hier bringt euch zum Nachdenken. So. Wie heißt du?«
»Dirk, Meneer Kosmann.«
»Was steht hier, Dirk?«
»›Marc Aurel, Wege zu sich selbst‹, Meneer Kosmann.«
Kosmann schlug das Buch auf und rief: »Genug des
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