Der blaue Vogel kehrt zurück
Glatzkopf von Ernst Cahn auf,dem Eismann, der vor einem Menschenleben von den Nazis erschossen wurde.
Über die Folgen hatte ich nie nachgedacht; ich glaube, das taten nur wenige von uns Jungs. Wir schlugen zu, gewannen mühelos jeden Kampf, doch außerhalb des Rings galten andere Regeln, und Unschuldige wurden Opfer unserer so genannten Heldentaten. Repressalien. Dieses Wort kannte ich nicht einmal.
Seit Jahren, noch vor der Besetzung der Niederlande, wollten wir in Aktion treten. Gegen das Unrecht natürlich, aber auch, weil unsere Muskeln gestählt waren und unser Durchhaltevermögen ungeheuerlich; mit einem Schlag wollten wir den Feind ausschalten. Wir sehnten uns danach, ihm gegenüberzustehen.
Wahrscheinlich war es Delmonte, obwohl ich mich davor hüten muss, ihm die ganze Schuld in die Schuhe zu schieben, aber jedenfalls brachte einer der jüdischen Jungen im Umkleideraum das Gespräch auf Herschel Grynszpan, der in Fresnes, nahe Paris, festgenommen worden war, weil er einen deutschen Diplomaten erschossen hatte. Wir kannten seine Beweggründe nicht, wir wussten überhaupt nichts über ihn, außer dass er Mitglied des Sportclubs Bar Kochba in Hannover gewesen war. Obwohl wir ihn für einen Fußballer hielten oder, schlimmer noch, für einen Geräteturner, erklärten wir Boxer uns dennoch solidarisch und beschlossen, Grynszpan aus dem Gefängnis zu befreien. Wenn er ganz allein eine so große Tat vollbracht hatte, mussten wir doch alle zusammen in der Lage sein, so etwas Simples zu bewerkstelligen? Wir waren alle aufgeregt, daran erinnere ich mich noch gut, doch kaum hörten die Zeitungen auf, über Grynszpan zu berichten, verflog auch unser Elan, einen Plan auszuarbeiten. Einige Wochen später behauptete einer von uns, Grynszpan seiwahrscheinlich nicht mal mehr in Fresnes, und wir stimmten ihm alle ohne zu zögern zu.
Aus Gründen, die mir für immer unbegreiflich bleiben werden, ließen wir nicht nur Herschel Grynszpan im eigenen Saft schmoren, sondern sprachen, soweit ich mich erinnern kann, auch nie über die Folgen des Attentats vom 7. November.
Es war Augusto, der zwanzig oder dreißig Jahre später – ich weiß nicht mehr, wann er sich welches Thema vorknöpfte – fragte, wie wir in Holland auf die Reichskristallnacht reagiert hätten, als überall in Deutschland, aber auch in Österreich und im Sudetenland Synagogen, jüdische Geschäfte, Krankenhäuser, Schulen und selbst Gräber zerstört und Menschen umgebracht worden seien. »Der Anfang der Judenverfolgung, Azulão!«
Er konnte nicht verstehen, dass ich mich damals kaum damit befasst hatte und auch jetzt nicht mit ihm darüber sprechen wollte. Später, um ihm einen Gefallen zu tun, erzählte ich meinem Freund von unserer Absicht, Grynszpan zu befreien. Augusto fand das großartig, doch ich sagte: »Eine Kinderei, im Nachhinein betrachtet.«
Wir erzählten es Kosmann nie, trotzdem war er nicht sonderlich erstaunt, als die meisten von uns sich drei Jahre später sofort bereit erklärten, auch außerhalb der Turnhalle zu zeigen, was in ihnen steckte.
Wie spannend es war, zusammen mit unserem Anführer für die gute Sache zu kämpfen, konnte Augusto sich gut vorstellen. Das waren Worte, die er hören wollte. Die gute Sache, sich einsetzen fürs eigene Volk.
Als Ernst Cahn aus seinem Laden geschleift und auf der Waalsdorpervlakte niedergeschossen wurde, hörte ich damit auf. Wenn ich ein höheres Ziel gehabt hätte, wenn ich ein Amsterdamer Grynszpan gewesen wäre, dann hätte ich weitergemacht,doch diese vagen romantischen Ideale, meine Jungsabenteuer, waren keinen Toten wert.
Vom Eissalon Koco ist nichts mehr übrig. Kein Namenszug am Schaufenster, keine farbenfrohen Stühle, keine Tische, keine Theke. Es sind keine Besucher da; nicht eine ungeduldige Mutter, kein kleckerndes Kleinkind. Ich kann die Eismaschinen nicht laufen hören, den Vanilleduft nicht riechen. Dennoch sehe ich ihn vor mir. Ernst Cahn. Ich …
Ich wollte, ich könnte sagen, dass ich nach dem Tod meines Vaters nie mehr ein Eis bei Koco gegessen habe, doch das stimmt nicht. Diese Dinge haben nichts miteinander zu tun. Vater starb, als Hitler in Deutschland an die Macht kam, und Cahn verlor sein Leben als direkte Folge von dessen Machtergreifung – in diesem Sinne verband der Führer alle Juden miteinander –, aber was ich jetzt mache, heute Abend in der Van Woustraat, ist nichts anderes, als Gegenwart und Vergangenheit auf seltsame Weise miteinander zu
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