Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arjan Visser
Vom Netzwerk:
Schwierigkeit der ganzen Unternehmung blende ich lieber aus, darüber kann ich mir immer noch Gedanken machen, wenn ich nicht mehr so angespannt bin. Erst muss ich zusehen, dass ich mein ängstliches Ebenbild durch Nordfrankreich lotse.
    Der Zug donnert weiter. Ich sehe, wie ich durchgeschüttelt werde, wie der Schweiß mir in Bahnen über das schmutzige Gesicht rinnt. »Verdammt, Jonah«, rufe ich, »hörst du mich denn nicht? Ein tolles Leben liegt vor dir! Du findest die schönste, liebste Frau der Welt und ein paar Diamanten noch dazu. Jetzt bist du nicht gerade in der besten Verfassung, aber nicht mehr lange, und du stehst wieder deinen Mann. Ach, was sage ich? Du wirst sogar in hohem Alter noch boxen, wie findest du das? Komm schon. Hab keine Angst. Alles wird gut. Und schließlich wirst du hier landen, in Lindas Hotel, Zimmer 206. Du wirst alt. Du wirst noch eine Menge erleben, ehrlich.« Ich muss schreien, um den Lärm zu übertönen. »Halt dich gut fest, Jonah Jacobson, du schaffst das!«
    Ich schrecke aus dem Schlaf, begreife, wo ich bin, und schäle mich aus dem Bett.
    Wasche mir das Gesicht, kämme mir das Haar.
    Hinter dem Tresen sitzt niemand.
    Auf der Straße ist nichts los.
    Ich gehe aufrecht.
    Mein Atem ist ruhig.
    Eine halbe Stunde später stehe ich vor der Synagoge in der Gerard Doustraat. Sie hat die gleiche Fassade aus rotbraunen Klinkern mit weißen Putzbändern wie Catharinas Hotel. Nicht das Tor unter der Jahreszahl in hebräischen Ziffern, sondern die Tür neben der Hausnummer 238 dient als Eingang. Dort steht ein Mann, der ab und zu jemanden hineinlässt.
    »Ich bin als Kind regelmäßig hergekommen«, sage ich.
    Der Wächter sieht mich forschend an, als würde er in Gedanken eine Reihe möglicher Feinde durchgehen.
    »Teschua Israel«, bringe ich zu meiner großen Überraschung heraus, »Israels Rettung«. Ich empfinde die Tatsache, dass ich den Namen meiner alten Schul kenne, als ganz passablen Beweis für meine Vertrauenswürdigkeit, doch der Mann tritt immer noch nicht zur Seite.
    An seiner Art, sich zu strecken, meine ich zu erkennen, dass er es bedauert, so klein zu sein. Der schüttere Spitzbart, an dem er ständig zupft, sieht aus wie nachlässig ans Kinn geklebt.
    »Ein Levit oder ein Cohen?«, fragt er schließlich.
    Ich muss ihn enttäuschen: Ich darf nicht den Segen über die Thora sprechen.
    »Leider weder noch. Mein Name ist Jacobson.«
    Der Wächter sieht mich mit einem »Ach, was soll’s«-Blick an und lässt mich seufzend passieren.
    In der Eingangshalle nehme ich eine Kippa aus einer Holztruhe und setze sie mir auf den Kopf.
    Ganz unwillkürlich gehe ich zum ehemaligen Platz meines Vaters. Wo ich nach seinem Tod zusammen mit Landau saß, weiß ich nicht mehr.
    Ich kann dem Gottesdienst noch mühelos folgen, als hätte ich das Gebetbuch auswendig gelernt, bevor ich es in eine Kiste warf und aus Amsterdam flüchtete.
    »Auf, mein Freund, der Braut entgegen. Das Angesicht des Schabbat wollen wir empfangen.«
    Bei der letzten Strophe hätte ich, wenn ich nicht so steif und langsam wäre, als Erster aufstehen können: »Kehre ein in Frieden, Krone des Mannes, ja in Freude und Jubelsang, bei des auserwählten Volkes Treuen.«
    Ich sehe mich um. Zwanzigjährige sind da, Vierzigjährige, Sechzigjährige, Achtzigjährige, aber garantiert keiner aus dem Jahrgang 1921. Ich bemerke einen kleinen Jungen, einen rotblonden Bengel mit langen Peies, der wunderbar zu singen anhebt. Ein paar andere in seinem Alter rennen durch den Gang. Ich sehe mich selbst vorüberlaufen. Auf und ab, auf und ab. Die Ermahnungen der Älteren klangen nie streng genug, um sie ernst zu nehmen. Wenn ich an meinem Vater vorbeikam, gab er mir einen Klaps auf den Po.
    So sehe ich ihn vor mir: Seine kräftigen Arme liegen auf der Rückenlehne der Holzbank vor ihm, er ist im Gespräch mit dem Metzger. Dessen Namen habe ich nie erfahren. Es gab einen Van Tijn in der Rijnstraat, unseren Metzger, doch der kam nie in die Synagoge. Dieser Metzger hier hatte buschige Brauen, die sich ständig hoben und senkten. Manchmal blieben sie hoch oben über seinen weit aufgerissenen Augen stehen und sanken dann, fast geräuschvoll, in Richtung Nasenwurzel hinunter. Wenn der Metzger sprach, ergriff er die Handgelenke meines Vaters. Schwarze Haarbüschel wuchsen auf seinen Fingern, unter den Nägeln hatte er Ränder von geronnenem Blut.
    Ich hatte keine Ahnung, worüber sie sich unterhielten. Sogar als ich einmal ein bisschen länger

Weitere Kostenlose Bücher