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Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arjan Visser
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überschaut.«
    »Hat dein Vater dir eine Geschichte zur Schabbatfeier mit auf den Weg gegeben?«, fragte Landau. Ich wollte meinem Vater nicht in den Rücken fallen, indem ich Landau die Geschichte erzählte, doch sie war so typisch für Vater, dass ich es trotzdem tat: »Er konnte es kaum erwarten, dass dieser Tag vorbeiging. Damit auch ich etwas zu tun hatte, trug er mir auf, am Samstagabend besonders aufmerksam zu sein. Sobald es draußen ganz dunkel war und ich drei Sterne gezählt hatte, sollte ich ihm Bescheid geben. Dann nämlich wäre der Schabbat vorbei.«
    Landau wirkte zufrieden. »Das hat er sich nicht aus den Fingern gesogen. Genau so ist das.«
    »Er mochte keine Regeln«, sagte ich, um das Andenken an meinen Vater dem Zugriff dieses frommen Mannes zu entziehen.
    »Ich möchte dir doch auch nichts verbieten«, antwortete Landau, »ich will dir nur Ratschläge geben.«
    Ohne ihn namentlich zu erwähnen, äußerte Landau seine Vorbehalte hinsichtlich des Lebenswandels meines Vaters. Vor allem die Welt der Vergnügungen missfiel ihm. Um mich von ihr fernzuhalten, zitierte er den Talmud, in dem wir dem Gott unserer Ahnen dafür danken, dass wir ins Lehrhaus und in die Synagoge gehen, und nicht zu den Männern gehören, die in Theater und Zirkusse laufen. Mit fisteliger, aber dennoch gewichtiger Stimme erklärte Landau: »Ich arbeite und sie arbeiten; ich warte und sie warten; mich erwartet das ewige Leben, sie die Zerstörung.«
    »Ich verstehe«, sagte ich. Das schien mir die einzige Antwort zu sein, die ihn zum Schweigen bringen würde. Selbstverständlichwaren auch Kinobesuche unerwünscht, doch dieses Vergnügen ließ ich mir nicht nehmen, weder von dem Mann, der nicht mein Vater war, noch von dem Gott, den er anbetete.
    »Dann ist ja gut.«
    Landau riet mir, die Thora zu lesen, den jüdischen Unterricht bei Rabbi De Hond zu besuchen und den gojischen Mädchen nicht mehr so oft hinterherzuschauen. Gegen das Boxen hatte er zum Glück nichts einzuwenden. »Solange du dich wie ein Gentleman benimmst.«
    An dem Freitagabend, an dem ich zum ersten Mal mit ihm in die Synagoge ging, fragte ich meinen Stiefvater: »Wie soll ich dich nennen?«
    »Du bist doch fast Bar-Mizwa, oder? Sieh mal, du bist genauso groß wie ich mit meinem riesigen Hut. So ein stattlicher Bursche wie du darf mich ruhig Landau nennen.«
    Seine Komplimente erfüllten mich mit Stolz, doch als wir kurze Zeit später nebeneinander auf der Bank saßen und ich eine tiefe, dunkle Leere an der Stelle sah, wo mein Vater immer gesessen hatte, schämte ich mich, dass ich mich hatte einwickeln lassen.
    Meine Mutter hatte sich für einen Mann entschieden, der in allem das Gegenteil meines Vaters war, doch sie tanzte immer noch – vielleicht tanzte sie sogar öfter –, und zwischen ihr und mir hatte sich nichts geändert.
    »Ich hätte mir keinen besseren Sohn wünschen können«, sagte sie.
    Weder der Qualm des Zigarrenbetriebs noch sein koscheres Gehabe konnten aus Landau ein vollwertiges Familienmitglied machen. Unsere Familie, das waren nur wir zwei, meine Mutter und ich. Für mich blieb Landau eine Art Kostgänger, und welche Rolle er in Wirklichkeit im Leben meiner Mutter spielte,habe ich nie erfahren. Nur aus einer plötzlichen Stille, meistens spätabends, schloss ich, dass sie möglicherweise dem Bedürfnis nach körperlicher Liebe nachgaben. Solange wir drei in der Tolstraat wohnten, stellte ich mir diese beiden Menschen kein einziges Mal zusammen in ihrem großen Bett vor. Später, als sie weg waren, tat ich das durchaus. Und hoffte von Herzen, dass sie, wo auch immer sie sein mochten, beieinander sein konnten und sich liebten, sämtlichem Hass auf der ganzen Welt zum Trotz.
    Ich akzeptierte Landau erst als Vaterersatz, nachdem er aus meinem Leben verschwunden und wahrscheinlich sogar schon lange tot war.
    Vor dieser Zeit, in einem Land, das untätig auf den Feind wartete, duldeten wir einander nur. Meine Mutter sagte, Landau  wolle mein Freund werden, doch mich konnte er nie von dieser Absicht überzeugen. Irgendwann vielleicht, wenn der Krieg nicht ausgebrochen wäre …
    Mein Vater hätte genauso wenig wie Landau unternommen, als die deutsche Armee anrückte. Er blieb immer sorglos und leichtlebig. Landau behielt sein Gottvertrauen und wartete brav auf die Anweisungen der Menschen, die Ihn verfluchten.
    Am 10. Mai 1940 stellte er genauso viele Zigarren her wie am Tag zuvor, und als die Dämmerung anbrach, ging er zur Schul und dankte

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