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Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arjan Visser
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Gott, dass wir noch Schabbat feiern durften.
    Es hat Momente gegeben, in denen ich glaubte, mit seiner unbegreiflichen, unerträglichen Duldsamkeit habe Landau meine Mutter mit in den Tod gerissen, doch eigentlich war mir bewusst, dass mein Vater sie genauso wenig hätte beschützen können und dass ihr Ende deshalb unvermeidlich war. Meine liebe Mutter …
    Als ich klein war, erzählte sie mir, sie sei geboren worden, um mich zu lieben.
    »Und wenn du mich nicht mehr lieb hast, was dann …?«
    Das war keine Frage, es war eine Rätselaufgabe. Ich lachte, als ich sie ihr stellte, doch sie erschrak und antwortete: »Ich werde dich niemals nicht mehr lieben, Jonah!«
    »Dann bist du tot!«, rief ich. »Wenn du tot bist, kannst du nichts mehr tun.«
    »Du hast recht, aber selbst dann wirst du meine Liebe noch fühlen.«
    Das stimmte. Ich habe ihre Liebe immer gefühlt, allerdings konnte ich mir auch nie vorstellen, dass sie wirklich tot war.
    Erst als ich Nana kennenlernte, begriff ich allmählich, wie sehr ich mich ohne Grab, ja selbst ohne Sterbedatum, weiter nach meiner Mutter gesehnt hatte.
    Aufgefallen war es mir sofort, doch ich brauchte Monate, bis ich es nach vielen hinkenden Vergleichen sicher wusste: Nicht ihre Augen oder ihre Hände, nicht ihre Art, sich zu bewegen oder sich auszudrücken, sondern Nanas Duft – am ausgeprägtesten in ihrem Nacken – war derselbe wie der meiner Mutter. Ja, so war das: Nana roch exakt wie die Frau, die ich 1942 zum letzten Mal gesehen hatte.
    Mit ihren langen Beinen und ihrer aufrechten Haltung. Stolz und glücklich. So wollte ich sie in Erinnerung behalten. Die Wirklichkeit, die ich von ihr besaß, war eine Lüge in Schwarz-Weiß, eine Momentaufnahme, gebannt auf ein fünf mal zehn Zentimeter großes Rechteck mit gezacktem Rand. Darauf lächelt sie mir, ihrem Fotografen, zu, doch ich weiß noch, wie ängstlich ihr Blick war, als ich den Apparat wieder sinken ließ.

25
    In der ersten Nacht lag ich wie gelähmt neben Nana im Bett. Ihre Haut war elektrisch aufgeladen. Die Rotorblätter des Deckenventilators verschnitten langsam, aber unaufhörlich ihren Duft mit dem der Orchideen vor dem Fenster unseres Zimmers in der Pension.
    »Eu te amo«, flüsterte sie.
    Als ich in sie eindrang, weinte ich wie ein kleiner Junge. Oder zumindest so, wie ich mir vorstellte, dass kleine Jungen weinen, denn aus meiner Kindheit war mir keine einzige Träne in Erinnerung.

26
    Irgendjemand sagt, er sei heute allein gekommen. Und es sei ein schöner Tag für diese Jahreszeit. Die Worte treiben in meine Richtung. Die Stimme gehört einer jungen Frau. Als sie neben mir steht, erkenne ich sie sofort wieder.
    »Guten Tag«, sagt sie, »wie geht es Ihnen?«
    Es ist so lange her; ich brauche einen Moment, um mich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass sie einfach so bei mir ist.
    »Ich bin Sonja, können Sie sich noch an mich erinnern?«
    Sonja? Auch gut. Ich bin überglücklich, sie zu sehen, aber schon so wach, dass ich sie nicht verrate. Erst als ich sicher bin, dass niemand in der Nähe ist, der uns belauschen könnte, bedeute ich ihr näher zu kommen. Ich sage, ich hätte sie gesucht und sei froh, dass sie mich gefunden habe. Sie lächelt, als wäre ich vollkommen senil, und fängt an, über Gott und die Welt zu reden. Das kann ich nicht; ich kann nicht so tun, als wäre nichts. Ich hatte mir unser Wiedersehen anders vorgestellt.
    Bei Gelegenheit werde ich mich für mein kindisches Benehmen entschuldigen, aber im Augenblick sehe ich keine andere Möglichkeit, als mir das Laken über den Kopf zu ziehen und aus ihrem Blickfeld zu verschwinden.
    Ich höre sie mit jemandem reden – wie gut, dass ich auf der Hut war.
    »Dann gehe ich eben.« Sie klingt aufrichtig enttäuscht.
    Was wolltest du denn, Kat?
    Ich will mich nicht verstellen; am liebsten hätte ich dich in die Arme genommen, aber wir werden beobachtet, das weißt du doch? Oder hast du ernsthaft geglaubt, dass die Krankenschwestern echte Krankenschwestern sind und die Patienten echte Patienten? Es war besser, so zu tun, als würde ich dich nicht sehen. Du sollst nicht wegen meines Leichtsinns vor meinen Augen niedergeschossen werden, damit will ich mein Gewissen nicht noch einmal belasten.
    Nach einer Weile tauche ich wieder auf. Du bist weg, doch wie erwartet kommt ein Mann auf mich zu, um mich über deinen Besuch auszuhorchen. Irgend so ein Kapitän, als solcher stellt er sich jedenfalls vor, aber er trägt keine Uniform. Seine

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