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Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arjan Visser
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würde, und hoffe, dass er es auch tun wird. Der Gedanke an Brasilien schärft meinen Verstand. Namen, Orte, Wörter – ein Strom von Erinnerungen setzt ein. Na los, frag schon, frag mich, was ein DCE ist.
    »Sie hatte es nicht dick, unsere Eva, also habe ich ihr ab und zu was zugesteckt. Verstehen Sie?«
    »Natürlich.«
    Ach, ist ja auch egal.
    »Sie wollte nichts davon wissen.«
    Ich werde wieder müde. Wie kann man bloß so müde sein?
    Kaptein blickt zur Zimmerecke. Wieder scheint seine Frau uns zu grüßen. Jetzt erkenne ich, dass sie am Tropf hängt; es sieht aus, als würde dieser Schlauch ihren Arm in der Luft halten.
    »Seit Jahren ist nichts mehr mit ihr los. Wissen Sie, wie oft sie hier im Krankenhaus war? Fünfundzwanzig Mal. Ein Jubiläum! Immerzu hat sie was.«
    Falls ich nicht zurückkehre, kann Vicky in der Rua Paraibuna bleiben. Anfangs wird sie noch auf mich warten, mit einer wundersamen Rückkehr rechnen, und sich dann Woche für Woche, Meter für Meter meinen Wohnraum aneignen. Sich in meinen bequemen Sessel niederlassen und endlos lange novelas im Fernsehen ansehen. Von meinem Teller essen. In meinen Spiegel schauen. Sich in mein Bett legen. Und wenn es eines Tages bei ihr so weit ist und sie Unterstützung braucht, bittet sie jemanden um Hilfe, und der zieht dann in die …
    »Dependência completa de empregada, DCE. Diese Abkürzung verwenden wir in Brasilien. Eine Art Dienstbotenwohnung mit Bad und Toilette.«
    Kaptein hört mir einen Augenblick lang zu und fährt dann fort mit der Beschreibung der körperlichen Unzulänglichkeiten seiner Frau und der Unannehmlichkeiten, die ihm das bereitet.
    »Ich versichere Ihnen, Meneer Jacobson, dass es wirklich kein Zuckerschlecken ist, neben einer Frau zu liegen, die permanent nach Urin stinkt. Ein ungeheuer durchdringender Geruch. Wie fauler Fisch. Manchmal dachte ich, und das dürfen Sie ruhig wissen, dass es besser wäre, wenn sie … Na ja, wenn sie sterben würde. Dann könnte Eva bei mir einziehen, und dann … Na ja, ich will mal so sagen: Ich glaube, sie ist sich bewusst, dass sie die paar Kröten extra nicht einfach so bekommt, falls Sie verstehen, was ich meine. Ich mag ja alt sein, aber es funktioniert alles noch. In letzter Zeit habe ich überlegt, mir das eine, Sie wissen schon, was ich meine, woanders zu besorgen, aber wenn es bei mir zu Hause stattfinden würde, in meinem Schlafzimmer, wie sich das gehört, wäre das doch besser und außerdem viel günstiger. Was meinen Sie?«
    Dieser Besucher verärgert mich maßlos. Ich wappne mich gegen seine Schamlosigkeit, indem ich mir sage, dass es auf derWelt immer Menschen wie ihn geben wird und dass es keinen Sinn hat, sich darüber aufzuregen. Ja, so ist das. Ich spüre, wie sich mein Gesicht entspannt. Wenn ich nur nicht so schrecklich müde wäre, würde ich vielleicht … Ich versuche zu lachen, muss aber gähnen.

32
    Eines Tages – es muss im März 1942 gewesen sein – sagte meine Mutter: »Du hast Landau viel zu verdanken, Jonah. Wenn er nicht vom Fach gewesen wäre, hätte man dich bei Asscher niemals genommen. Dann wärst du ein Schacherer geworden, wie dein Vater. Merkst du dir das?«
    Ich sollte diesen beiden Männern für so vieles dankbar sein. Meinem Vater für meine Geburt, Landau für mein Fortbestehen.
    »Mache ich«, versprach ich.
    An Mutter und Landau war ein Aufruf der Zentralstelle für jüdische Auswanderung ergangen, sie sollten sich am nächsten Tag am Centraal Station einfinden. Von dort sollten sie mit dem Zug zu einem Erholungsheim fahren. Diesen Bären hatte Delmonte ihnen aufgebunden. Ich fragte nicht, wovon sie sich denn erholen sollten. Auch die Bemerkung meiner Mutter, dass sie eben vorübergehend an einen anderen Ort gebracht werden würden, schluckte ich. Erst als sie von diesem Dreckskerl anfing, kam mir die Galle hoch.
    »Wir brauchen keine Angst zu haben«, sagte sie. »Dein Freund Bobby sagt …«
    »Delmonte ist nicht mein Freund.«
    »Wir werden gut behandelt, sieh mal …« Sie zeigte mir den Brief, in dem stand, sie dürften am nächsten Tag kostenlos mit der Straßenbahn fahren.
    »Wie großzügig! Das ist für die doch bloß ein Klacks.«
    »Jonah!« Landaus Ton war entschieden zu sanft, um mir zu imponieren.
    »Ihr habt es ja wirklich gut getroffen«, fuhr ich fort, »mit so einer Zugfahrt. Vielleicht bleiben sie gar nicht an der Grenze stehen, sondern fahren in einem Stück durch bis nach Tirol. Wir Schleifer sind die Dummen; wir sind den Nazis

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