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Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arjan Visser
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noch zu etwas nütze. Dank der Sperre dürfen wir uns noch für sie totschuften.«
    Mutters Blick bewirkte mehr als Landaus Stimme. Ich verstummte und hielt den Mund, bis sie in ihren dicken Wintermänteln – man konnte ja nie wissen – in der prallen Sonne auf dem Bürgersteig standen.
    Da kam Mevrouw Van Groen händeringend zu uns. Es wurde zu einem richtigen Abschied, weil sie in Tränen ausbrach, sonst hätte ich einfach nur Auf Wiedersehen gesagt. Und jetzt los, beeilt euch. Auch meine Mutter wurde unruhig.
    »Na dann, Jonah«, sagte sie, »versprich mir, dass du gut …«
    »Ich bin einundzwanzig Jahre alt, Mama.«
    »Das weiß ich doch. Na dann. Junge …«
    Ich nahm sie einen Augenblick in die Arme. Beugte mich zu ihr hinunter. Verbarg mein Gesicht in ihrem Nacken. Sie löste sich von mir, zog ihren Ehemann zu sich. Er hielt mir die Hand hin.
    »Jonah.«
    »Landau.«
    Mehr fiel uns nicht ein. »O weh, o weh!«, jammerte Mevrouw Van Groen, als fühlte sie sich für das Unbehagen verantwortlich, das durch unsere Schweigsamkeit entstanden war, und wollte die Stille durchbrechen.
    Landau versuchte, sie mit seinem »Alles wird gut«-Gerede zu trösten, doch das verstärkte ihren Gefühlsausbruch nur.
    »Du …!«, stieß sie hervor – und sie muss gesehen haben, dass wir alle drei auf ihr übliches »meine Güte« warteten, das immer aufs »Du« folgte, wenn sie zwar aufgebracht war, aber nicht wütend genug, um Gottes Namen ins Spiel zu bringen. Dieses Mal blieb es jedoch bei einem hilflosen »Du«.
    Meine Mutter umarmte die Nachbarin. Ich ließ Landaus Hand los.
    Zum Schluss blieb nur noch eines: »Auf Wiedersehen.«
    Dann hoben sie ihre albernen alten Koffer hoch und gingen zur Van Woustraat. Die Linie 8 näherte sich bereits.
    Mevrouw Van Groen packte mich am Handgelenk und sagte, wie schrecklich das alles sei und was für eine Schande. Ich begleitete sie in ihre Wohnung und wollte ihr etwas zu trinken bringen.
    »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich jetzt was trinken kann?«, sagte sie ganz aufgelöst. Und danach, im Flüsterton: »Scheißmoffen.«
    Ein paar Tage später fragte sie mich, ob auch ich am Schabbat ihre Dienste in Anspruch nehmen wolle.
    »Nicht nötig«, antwortete ich, »ich kriege den Ofen allein an.«
    Mevrouw Van Groen warf jammernd die Arme in die Luft. »Wer wird denn jetzt am Samstag für deine Mutter sorgen?« Ich sagte, sie solle sich keine Gedanken machen, doch wahrscheinlich ging es ihr vor allem um ihre Einkünfte – so wenig Landau ihr auch bezahlt hatte – und um die freie Zeit, die sie nun anders füllen musste.
    Bei mir war es umgekehrt. Über das Schicksal meiner Mutter und meines Stiefvaters nachzudenken half mir nicht weiter. Rasch fand ich Gefallen daran, die Wohnung für mich allein zu haben und von Landaus Regeln erlöst zu sein.
    Einen Tag nach dem Aufbruch meiner Mutter schob ich dieFenster zur Straße auf. Aufgeschreckt vom Poltern kam Mevrouw Van Groen hoch und erkundigte sich, was los sei; ich sagte, ich wolle ein wenig frische Luft hereinlassen, doch in Wirklichkeit wollte ich vor allem den Geist des Zigarrenherstellers austreiben.
    Als ich seine Sachen aufräumte, stieß ich auf eine kleine Holzschatulle mit siebenhundert Gulden darin. Erst dachte ich an mich – zusammen mit meinem Ersparten hatte ich nun fast tausend Gulden –, dann an Landau, der das Geld vermutlich zurückgelassen hatte, weil er sicher war, dass er bald nach Amsterdam zurückkehren würde.
    Ungefähr zwei Wochen nach dem Abschied bekam ich eine Postkarte aus Vught, auf der in Landaus Handschrift stand, dass »alles in Ordnung« sei. Ich versuchte, dieses »alles« mit Landaus Augen zu sehen und ab diesem Moment war ich beunruhigt. In einem Brief an meine Mutter schrieb ich, ich hätte Landaus Schatulle gefunden. Falls sie den Inhalt gebrauchen könnten, sollten sie es mich wissen lassen. Ich schloss mit Küssen, Umarmungen und den besten Wünschen.
    Es kam keine Antwort.
    Das Alleinsein machte mir allmählich doch zu schaffen. Es war still und leer in der Wohnung. Ich machte mir Sorgen, weil sich so vieles in meinem Leben änderte; die Tatsache, dass für Nichtjuden alles beim Alten blieb, fand ich allerdings mindestens genauso beunruhigend. Überall sah ich fröhliche Gesichter. Manche Menschen verhielten sich mir gegenüber übertrieben freundlich und begrüßten mich wortreich, öfter jedoch wurde ich ignoriert oder sie sahen mir hinterher, als würde ich sie bei ihrem Fest stören,

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