Der blaue Vogel kehrt zurück
Mitgliedern auch Nichtjuden zählten, nicht mehr Auto fahren zu dürfen …
Ich setzte meinen Weg zu Asscher fort, mit den Gedanken war ich bei meiner Mutter und Landau, von denen ich seit der Postkarte nichts mehr gehört hatte. Es schien fast, als würde mir erst in diesem Augenblick klar werden, wie merkwürdig es war, dass sie schon so lange irgendwo eingesperrt sein sollten. Für welches Vergehen waren sie inhaftiert worden? Wie sollten sie sich dagegen wehren? Meine Mutter würde keinen Widerstand leisten, und auch von Landau erwartete ich keinen Protest. Ich sah seinen gesenkten Kopf vor mir, ich hörte das Jammern meiner Mutter, erstickt in den Falten eines schmutzigen Kopftuchs. Nicht weinen, sagte ich leise, nicht weinen, Mama.
An meinem Platz in der Schleiferei angekommen, las ich zunächst Het Joodsche Weekblad , dessen Chefredakteur Asscher war. Bis dahin hatte das Wochenblatt mich nicht sonderlich interessiert, ich hatte es höchstens gelegentlich durchgeblättert, um mich abzulenken, doch als ich an jenem Morgen des 5. Juni 1942 auf der Titelseite las, dass »mit sofortiger Wirkung« ein allgemeines Reiseverbot für Juden gelte, war es, als hätte man mir meinen eigenen Tod angekündigt. Wenn ich jetzt nichts unternahm, war’s das.
Einige Wochen zuvor hatte ich auf der Straße Arnold Zipper getroffen – einen mittelmäßigen, aber als Sparringspartner geeigneten Boxer. Es war eine seltsame Begegnung gewesen. Seine Spezialität, das Täuschungsmanöver, schien er jetzt auch auf derStraße anwenden zu wollen. Ich musste zweimal nach ihm greifen, bevor ich ihn dazu bringen konnte, stehen zu bleiben.
»Jacobson«, zischte er, »was hast du denn noch hier zu suchen?«
»Ich bin vom Fach, Zipper«, sagte ich, »für uns gilt eine Sperre.«
»Und deswegen wiegst du dich in Sicherheit? Ich habe gehört, dass sie auch in Vught Maschinen aufstellen wollen. Dann darfst du bald hinter Stacheldraht arbeiten. Und Gott weiß, was das nächste Reiseziel ist.«
»Wenn die Lage so brenzlig ist, kann ich dich genauso fragen: Warum bist du noch nicht abgehauen?«
Noch bevor er den Mund aufgemacht hatte, wusste ich, was er sagen würde; er war bereits im Aufbruch begriffen, war schon mehr weg als hier.
Über Asschers dämliche Zeitung gebeugt wurde mir klar, dass für mich jetzt nichts wichtiger war, als meinen Boxkameraden wiederzufinden. Vielleicht konnte er mich ja mitnehmen, in irgendein sicheres Land. Und von dort aus weiter nach Brasilien. Warum eigentlich nicht?
34
Zipper war zwar noch nicht weg, doch mitnehmen wollte er mich nicht. Stattdessen gab er mir einen Tipp, an wen ich mich wenden könne. Es gebe da einen Typen, der früher bei uns im Boxclub gewesen sei und der einem für dreihundert Gulden Ausweispapiere beschaffen könne, außerdem gebe es eine Gruppe in der Rivierenbuurt, die sichere Unterschlupfadressen auf dem Land kenne.
Anderthalb Wochen später nannte er mir zwei Namen: Bobby und Linda. »Bobby besorgt dir die Papiere. Linda bringt dich auf den Weg.«
Ich kannte nur einen Bobby bei Olympia und fragte: »Meinst du Delmonte?« Er war’s. Ich entgegnete, Delmonte sei nicht vertrauenswürdig, doch Zipper zeigte mir seine gefälschten Papiere. »Die sehen doch astrein aus, oder? Morgen bin ich weg.«
Er sagte, um Delmonte solle ich mich selbst kümmern, und mit Linda habe er vereinbart, dass sie am Sonntagmorgen auf ihrem üblichen Spaziergang durch die Rijnstraat gegen zehn Uhr die Brücke über die Amstel überqueren würde und dass ich ihr an einen sicheren Ort folgen könne, um dort ein paar Dinge zu besprechen.
»Wenn ihr da angekommen seid, fragt sie dich als Erstes, ob du mit mir verwandt bist, verstanden?«
»Ja.«
»Wenn nicht, ist da was faul. Das ist dir klar, oder? Wenn es sicher ist, kannst du weitermachen. Sonst lässt du die Finger davon.«
»Ist gut, ich hab’s ja verstanden, du Meisterspion.«
Ich verpasste ihm einen Hieb aufs Kinn. Gut gemeint, aber etwas zu kräftig.
35
Ich musterte mich in einem Schaufenster: Hose, Mantel, Stern. Alles in Ordnung, geh ruhig weiter. Ein bisschen langsamer, gut, und jetzt behalte diese Geschwindigkeit bei; ein konstantes Tempo erregt weniger Misstrauen.
Direkt hinter der Kreuzung mit der Carrillonstraat kam mir Kalf entgegen.
Kalf war ein armer Schlucker, ein Straßenhändler, der in der Synagoge immer auf der Bank vor uns saß. In seinem Gebetsmantel fühlte er sich wohler als im Schlafanzug. An seinem Gang konnte ich
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