Der blaue Vogel kehrt zurück
als wäre ich so etwas wie ein Gast mit viel zu viel Sitzfleisch.
Von all dem, was Kosmann uns beigebracht hatte, fiel mir eines immer schwerer: über den Dingen zu stehen, über demSchmerz und der Begierde. Und was dann? Akzeptieren, was passierte? Unmöglich. Wenn ich blieb, wo ich war, würde ich eines Tages selbst verhaftet und abgeführt werden oder aber ich starb vor Langeweile. Für uns gab es nichts mehr zu tun. Für Juden verboten. Juden nicht erwünscht.
Im Olympia war ich der Einzige aus meinem Jahrgang. Vier Jungen waren nach dem Generalstreik im Februar 1941 nicht zurückgekommen, zwei waren irgendwo untergetaucht und von den Übrigen erschien mir keiner gut genug, um ihn zu einem Kampf herauszufordern. Das Einzige, was mir noch Spaß machte, war, auf den Boxsack einzudreschen.
Ich blieb länger im Bett liegen, ging später zur Arbeit. Im Vorbeigehen tippte ich gewohnheitsgemäß vor dem Fenster von Mevrouw Van Groen an die Mütze. Wenn sie an ihrem Stammplatz saß, winkte sie zögerlich. Falls sie mein Verhalten missbilligte, war sie jedenfalls zu ermattet, zu abgestumpft, um etwas zu sagen. Nur das: ein träges Winken mit ihrer mageren kleinen Hand.
Danach schlenderte ich durch die Tolstraat, den Zaun entlang, an dem seit ewigen Zeiten nicht mehr besetzten Wächterhäuschen vorbei und betrat die Schleiferei. Ich stieg die Treppe ins dritte Stockwerk hinauf und suchte mir in dem fast leeren Saal einen Tisch an der Nordseite.
Der Chef, den ich in jenen Tagen nur noch selten sah, hatte mir von seinen wichtigen Besuchern erzählt und gesagt, man würde sie von dort aus unten auf dem Weg zu seinem Turm vorbeigehen sehen, der für solche Anlässe mit einem beeindruckenden Baldachin geschmückt wurde.
»Unsere Besucher gehören nicht zu den Geringsten«, hatte Asscher gesagt und mir ein Buch mit goldenem Einband gezeigt. »Sieh mal, dieser Krakel stammt vom Kaiser von Japan.« Die Unterschrifteines dicken Deutschen – des einzigen wichtigen Gastes, den ich je hereinkommen sah – war dem Buch erspart geblieben, weil der Chef kurz vor dessen Ankunft in De Telegraaf veröffentlichen ließ, das berühmte Goldene Buch sei gestohlen worden.
Asscher hatte mir auch von den Opern erzählt, die früher in der Firma gesungen worden waren. Vor allem unter den Spaltern, sagte er, habe es Sänger gegeben, die mit den Tenören vom Concertgebouw hätten mithalten können. Ich hatte es nie selbst erlebt, doch ich hatte immer das Gefühl gehabt, es könnte jederzeit jemand anheben zu singen.
Jetzt hörte ich nur noch ein paar Drehscheiben.
Es wurde mir immer unangenehmer, das Gebäude zu betreten, nicht wegen dem, was mir dort fehlte, sondern wegen dem, was stattdessen vorherrschte: Angst und Stille. Wenn überhaupt geredet wurde, dann handelte es sich immer um Gerüchte.
In den Lagern würden die Menschen vor Hunger und Erschöpfung sterben.
Unsere Sperre sei nichts wert.
Nicht mehr lange, dann würden auch die Diamantarbeiter abtransportiert werden.
33
An einem dieser trostlosen Tage öffnete in unserer Straße das Lichtspielhaus Thalia seine Pforten. Es wurden nur deutsche Filme gezeigt und ich durfte natürlich nicht ins Kino, dennoch blieb ich auf dem Weg zu Asscher einen Augenblick lang stehen, um mir die Vorankündigungen anzusehen.
»Heute Abend, La Jana in … Stern von Rio !«
Ich erkannte die Tänzerin auf der Fotografie. Auch die Gesichter der Männer, Gustav Diessl und Werner Scharf, sagten mir etwas – ich hatte sie als mäßige Schauspieler in Erinnerung, ein paar Jahre zuvor hatte ich sie im Kino gesehen.
Brasilien.
Hitze stieg mir ins Gesicht. Ich zupfte an meinem Hemdkragen.
Max Brander.
Ich sah ihn auf einem Pferd durch die südamerikanische Landschaft reiten. Er nahm den Hut ab und winkte mir damit. Ich betrachtete seine Geste als Einladung, sie konnte aber auch eine Warnung sein: Falls ich ernsthaft nach Brasilien wollte, war dies hier meine letzte Chance.
Dass ich mich nicht mehr in meinem eigentlichen Badehaus waschen durfte, sondern bis in die Andreas Bonnstraat gehen musste, empfand ich als Schikane, genauso wie die irrwitzige Vorschrift, dass ich nicht mehr angeln gehen durfte – als obich ein Bedürfnis danach verspürte. Vielleicht richtete ich meine ganze Aufmerksamkeit auf diesen Kleinkram, damit ich mir keine Gedanken über die viel größeren Kränkungen machen musste: keine öffentlichen Schulen mehr besuchen zu dürfen, aus Vereinen austreten zu müssen, zu deren
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