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Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arjan Visser
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erwischt zu werden. Ich versuchte, an etwas Schönes zu denken. Meine Ängste durften nicht die Oberhand gewinnen. Als der Zug zum vierten Mal ächzend zum Stehen kam, dachte ich schon, ich hättees geschafft, ohne mich allzu sehr verspannt zu haben. Doch ich musste mich abmühen, um mich aus dem Overall zu schälen, und merkte da erst, wie steif ich geworden war.
    Ich stolperte in den Warteraum zweiter Klasse des kleinen Bahnhofs, wo, wie Tommy gesagt hatte, ein Mann mit einem grauen Bart saß und Pfeife rauchte. Laut Drehbuch sollte er sofort aufstehen, die Pfeife dreimal kräftig ausklopfen und nach draußen gehen. Dankbar und erleichtert sah ich, dass er sich an die Vereinbarung hielt. Ich folgte ihm mit einigen Metern Abstand durchs Dorf. Als wir an einem großen Haus mit blauen Fensterläden vorbeikamen, drehte er sich zu mir um und nickte, dann beschleunigte er die Schritte. Am Tor vor dem Haus sah ich das Namensschild des Arztes, den ich wegen mal au dos konsultieren sollte: L. F. Destouches.
    Der médecin war ein kleiner, schmieriger, unsympathischer Mann. Auf »les juifs« schimpfend, aber ohne uns in Schwierigkeiten zu bringen, fuhr er nach Saint-Lizier. Dort übergab er mich – mit einem auffälligen Augenzwinkern, das ich mir aber auch später ausgedacht haben könnte – einem Hirtenjungen, der mich für zweihundert Francs über die Pyrenäen bringen sollte.

47
    Da kommt Dr. Steenstra. Oder Augusto de Farias, das kann auch sein. Ihr Alter und ihre Herkunft sind unterschiedlich, und außer ihrem Haarschnitt haben sie äußerlich kaum etwas gemein, aber sie sind vom selben Schlag. Freundliche Menschen. Gutmütig. Zuverlässig. Er wandert von einem Bett zum nächsten, erkundigt sich wohlmeinend nach dem Befinden.
    »Und wie geht es hier?«
    »Hier wird langsam gestorben«, sage ich. Es klingt dramatischer, als ich es meine.
    Steenstra nickt abwesend, wie Augusto das auch kann, er hat nicht vor, sich aus dem Konzept bringen zu lassen. Vielleicht ist das Ärzten eigen. Sie arbeiten sich schichtweise vor, angefangen bei der Haut. Sie untersuchen ihre Farbe und ihre Struktur. Sie schauen ins Weiß der Augen. Befühlen die Stirn, die Wangen und den Hals. Betrachten die Lippen, die Zähne, die Zunge. Hören aufmerksam zu. Und wenn alles gesagt ist, sehen sie noch unter den Worten nach, um herauszufinden, welche Informationen sich dort eventuell verbergen.
    Ich erzähle ihm vom ersten Mal, als ich glaubte, zu sterben. Es stellte sich als Irrtum heraus, aber was weiß man mit einundzwanzig schon vom Sterben?
    »Das war in den Pyrenäen. Waren Sie mal dort, Doktor?«
    »Träumen Sie von Bergen, Meneer Jacobson?«
    Soviel ich weiß, nicht, und jetzt komm, lass mich doch … Hatte ich ihm bereits erzählt, wie ich von den Niederlanden nach Brasilien geflüchtet war? Oder war das jemand anders? Vielleicht sollten sie sich, wenn ich nicht mehr da bin, zusammentun, alles, was ich gesagt habe, auf einen Haufen werfen und eine zusammenhängende Geschichte daraus machen.
    »Wovor sind Sie auf der Flucht?«
    Flucht? Habe ich »Flucht« gesagt? Ich habe dieses Wort nicht immer benutzt. Anfangs nannte ich es »reisen«. Eine Flucht ist schließlich auch eine Reise. Vicky gegenüber traute ich mich dann zu sagen, dass ich Menschen im Stich gelassen hatte. »Wen denn?«, fragte sie. Zögernd antwortete ich: »Mein Volk.« »Sie haben nichts falsch gemacht«, sagte sie und stand auf, um sauber zu machen oder mir etwas einzuschenken, das habe ich vergessen. Ich glaube, Vicky wollte nichts davon hören; sie hatte mich bereits in eine Schublade gesteckt, ich war der liebe alte Gringo, ihr Arbeitgeber, ihre Lebensversicherung. Sie wusste, woran sie mit mir war, und das sollte bitte schön so bleiben.
    »Ich musste weg«, sagte ich. »Ich hatte keine Wahl.«
    Steenstra greift nach meinem Arm, legt zwei Finger an den Puls und sieht auf die Uhr. Das halte ich für überflüssig. Ich nehme an, dass es sein Vorwand ist, um hierzubleiben, um zu erfahren, wie es mir da in den Bergen ergangen ist.
    Überall gab es Menschen, die einem weiterhalfen. Schleuser wurden sie genannt. Oft waren sie mutig und ehrlich, aber hin und wieder traf ich auf jemanden, der es nur des Geldes wegen machte.
    »Lässt Ihnen das keine Ruhe?«
    Was soll mir keine Ruhe lassen? Ach, der Tod natürlich. Ein schönes Thema. Ich habe selbst davon angefangen. Jetzt muss ich weitererzählen, sonst setzt der Arzt noch seine Runde fort.
    Es war in den Pyrenäen, oder

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