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Der blaue Vogel kehrt zurück

Der blaue Vogel kehrt zurück

Titel: Der blaue Vogel kehrt zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arjan Visser
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hatte ich das schon gesagt?
    Wie hieß der Junge noch gleich? Pierre! So sollte ich ihn nennen. Bei einer Brücke im Tal nahe Aunac wären wir um ein Haar einem deutschen Soldaten in die Arme gelaufen. Wie konnte jemand, der nach eigenem Bekunden das ganze Gebiet in- und auswendig kannte, die größten Hürden übersehen? Nachdem der Soldat verschwunden war, hasteten wir weiter. Ab dem Moment kam ich mir vor wie Pierres Verfolger, nicht wie sein Reisegefährte. Ich war noch nie in den Bergen gewesen und hatte außerdem zu wenig gegessen. Ich ärgerte mich über diesen Jungen, der die Berge genauso schnell hinauf- wie hinunterlief und sich kein einziges Mal umdrehte, um zu schauen, ob ich ihm hinterherkam.
    »Ihr Puls ist normal«, sagt Dr. Steenstra.
    Pierre sollte mich bis zur spanischen Grenze bringen, blieb jedoch plötzlich oben auf dem Col de la Core stehen. Von dort aus deutete er in Richtung Süden, was wohl heißen sollte, dass Spanien gleich da drüben lag.
    »Col de Soularil, Col de Craberous, Col de Pécouch et puis: L’Espagne.«
    Dann machte er sich aus dem Staub, noch bevor ich ihn einen Betrüger nennen konnte.
    Der Schock schlug in Erschöpfung um – es fühlte sich an, als hätte ich zwei Boxkämpfe hintereinander ausgetragen –, doch ich riss mich zusammen, weil ich wusste, dass ich nach Pierres Aufbruch nicht nur eine Route, sondern auch einen eigenen Rhythmus finden musste. Ich stieg den Berg hinunter, nahm auf dem holprigen Pfad eine Haarnadelkurve und machte mich an den nächsten Anstieg.
    Es war kalt und dunkel. Auf Pierres kindlicher Skizze der Umgebung – »En cas d’urgence« – hatte ich, wenn ich mich recht erinnerte,eine gestrichelte Linie zwischen zwei Dreiecken, »Soularil« und »Craberous«, gesehen. Das zweite Symbol war größer als das erste. Beim Craberous konnte ich noch nicht sein, aber war das da der Umriss des Soularil? Nässe drang durch meine Schuhsohlen. Ich hatte Brot, doch ich konnte nichts herunterbringen – wahrscheinlich hatte ich zu lange damit gewartet. Bei jedem Bissen musste ich würgen. Nach einer Viertelstunde hoffnungsloser Kletterei beschloss ich, umzukehren und zu dem Schuppen zurückzugehen, den ich unterwegs am Waldrand bemerkt hatte. Ich hatte gerade erst kehrtgemacht, als ich Hundegebell hörte. In Gedanken rannte ich davon, doch in Wirklichkeit blieb ich stehen. Mein Herz wollte nichts wie weg, es pumpte Blut durch die Adern und raste, doch ich setzte mich nicht in Bewegung, und nach einer Weile schien sich auch mein Gehirn mit diesem Los abzufinden: Hier, in den Pyrenäen, am 5. August 1942 würde mein Leben enden.
    Während ich die deutsche Patrouille näher kommen hörte – etwas anderes konnte es nicht sein –, blickte ich zu dem Berg, den ich nicht mehr erklommen hatte. Schade, dass ich nicht bis zum Gipfel käme; wenn schon sterben, dann doch bitte wie Moses auf dem Berg Horeb, an der Stelle mit der schönsten Aussicht. Gleichzeitig war ich auf seltsame Weise zufrieden, weil ich nicht länger flüchten musste; dann würde es still sein und alles wäre vorbei.
    Ich hätte schwören können, dass der Trupp sich näherte, doch der Lärm streifte meine Ohren bloß und trieb dann weiter Richtung Norden, ins Landesinnere hinein. Schließlich hörte ich nichts mehr. Ich sog den Duft des Waldes tief ein, ließ ihn durchs Zwerchfell strömen und kehrte mit einem tiefen, stockenden Seufzer zurück ins Krankenhaus in Amsterdam.
    Ich blicke gespannt hoch, um zu sehen, ob ich Steenstras Aufmerksamkeit habe fesseln können, doch der ist nicht mehr da. Dann muss ich mich eben damit vergnügen, mir vorzustellen, dass ich ihn in der Landschaft meiner Erinnerung zurückgelassen habe.
    Da ist er ja auch schon. Steenstra folgt mir zu dem Schuppen in den Bergen. Wir finden die Pferdedecke und den Apfel: Dinge, die wahrscheinlich ein anderer Flüchtling zurückgelassen hatte, dachte ich seinerzeit. Damals aß ich nichts, doch nun fühle ich mich für den Gast in meiner Erinnerung verantwortlich. Ich lege die Daumen an den Stiel und breche den Apfel entzwei. Wir essen, schlüpfen unter die Decke und schätzen uns glücklich. Als es hell wird, wecke ich Steenstra. Er sagt, mehr zu sich selbst als zu mir, dass er verschlafen habe, und sucht nach seinem Handy. Ich lasse ihm einen Augenblick Zeit, zu begreifen, dass er sich in meinen Hirnwindungen befindet. Er schlägt vor, ein paar Kontrolluntersuchungen vorzunehmen, und legt mit seiner Fragenliste los. Ob ich

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